Schwert statt Schmuck

Die Gewerkschafterin Paula Thiede wurde am 6. Januar vor 150 Jahren geboren.

  • Uwe Fuhrmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde, dem »Sozialistenfriedhof«, findet sich ein Grab, wie es für Angehörige der Arbeiter*innenklasse großen Seltenheitswert hat. Es erinnert an Paula Thiede, die weltweit erste Frau als Vorsitzende einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft.

Als sie 1919 starb, wussten ihre Kolleg*innen (die sie für »unvergesslich« hielten) ganz genau, wen sie damit ehrten - und warum. Doch dieses Wissen ging allzu schnell verloren und bis zur Einweihung des Berliner Paula-Thiede-Ufers im Jahre 2004 erinnerte nur das Grab an dieses außergewöhnliche Leben. Eine lebendige Erinnerung an Thiede wäre mehr als gerechtfertigt, denn was sie als proletarische Frau, geprüfte Mutter und kämpferische Gewerkschafterin erlebt und geleistet hat, steht in dieser Kombination allein auf weiter Flur.

Pauline Augustine Philippine Berlin wurde am 6. Januar 1870 geboren. Die Arbeiterfamilie (ihr Vater war Tischler) wohnte am südlichen Rand des aufstrebenden Berliner Zeitungsviertels, an wechselnden Adressen rund um das Hallesche Tor. Damals wie heute liegen direkt nördlich davon die wichtigsten Standorte bedeutender Pressehäuser - damals Mosse, Ullstein und Scherl, heute taz und Springer. Diese räumliche Nähe beeinflusste das Leben von Paula Thiede, und sie begann mit etwa 14 Jahren als »Anlegerin« in einer Druckerei zu arbeiten. Ihre Aufgabe bestand darin, in einer monotonen Tätigkeit im Takt der Maschinen große Papierbögen in sogenannte Buchdruck-Schnellpressen einzulegen. Um gesundheitliche Risiken für ihre Arbeiter*innen scherten sich die Unternehmer (»Prinzipale«) nicht: »Wenn ein Mädchen mit 16 Jahren bei uns auf die Maschine gestellt wird und 6 Jahre daran arbeitet, dann sind unsere Anlegerinnen gewöhnlich krank«, stellten sie noch 1907 kühl fest. Von den männlichen Buchdruckern, die an den gleichen Maschinen und mit den gleichen giftigen Stoffen arbeiteten, erlebte nicht einmal die Hälfte ihren 40. Geburtstag.

Mit einem von diesen, dem zehn Jahre älteren Schriftsetzer Rudolf Fehlberg, wohnte Thiede bald in einer eigenen Wohnung im heutigen Graefekiez. Sie heirateten im Oktober 1889, und wenige Wochen später kam ihr erstes Kind Emma zur Welt. Doch kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes erlag der 31-jährige Buchdrucker Fehlberg einem kurzen, aber schweren Leiden. Damit verlor die Hochschwangere ihr materielles Auskommen - in den Wochen um die Geburt konnte sie nicht selbst arbeiten und eine soziale Absicherung gab es nicht. Als am 2. Mai 1891 ihr zweites Kind Richard zur Welt kam, zählte Thiede zu den Ärmsten der Armen. Um Miete zu sparen, musste sie in einen feuchten Neubau in der unteren Chausseestraße umziehen. Unter diesen Umständen verstarb ihr wenige Monate altes Baby im August - bitterer Alltag in der Arbeiterschaft.

Kampf um den Neunstundentag

Thiede - zu diesem Zeitpunkt erst 21 Jahre alt - zog nach Kreuzberg zurück und arbeitete wieder an einer Schnellpresse. Sie geriet unmittelbar in einen der größten Streiks, den das Kaiserreich bislang gesehen hatte: Ab Oktober 1891 führten die Buchdrucker einen hoffnungsvollen Kampf für den Neunstundentag. Am 14. November standen 12 000 Buchdrucker im Streik - und mit ihnen Tausende Buchdruckereihilfsarbeiter*innen. Doch die Behörden beschlagnahmten die gewerkschaftseigenen Unterstützungskassen und der Streik ging im Januar 1892 trotz breiter Solidarität verloren. Der Verein der Arbeiterinnen an Buchdruck-Schnellpressen, der sich noch unter dem Sozialistengesetz Anfang März 1890 als Frauengewerkschaft gegründet hatte, brach zusammen.

Der nötige Neubeginn wurde auch zum Neubeginn für Paula Thiede. Trotz der Verantwortung für ihre dreijährige Tochter Emma setzte sie sich »bis tief in die Nacht hinein« für den Wiederaufbau des Vereins ein, und 1894 wurde sie Vorsitzende der Berliner Hilfsarbeiterinnen. Der nächste große Streik im Buchdruck (1896) wurde ein großer Erfolg. Eine gewerkschaftliche Auswertung endet mit der lapidaren Feststellung: »Der Streik war ein Angriffsstreik und fiel zu Gunsten der Arbeiter aus.« In den Druckereien galt fortan der Neunstundentag, auch für die Hilfsarbeiter*innen. Im Jahr 1898 wurde der Verband der Buchdruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands gegründet, und Paula Thiede übernahm den Vorsitz dieser reichsweiten Gewerkschaft, einer Vorläuferorganisation von ver.di. In den folgenden Jahren stieg die Mitgliederzahl bis auf 17 000 Personen, und der Verband gewann enorm an Einfluss und Selbstbewusstsein. In Berlin wurde ein Mindestlohn für Anlegerinnen durchgesetzt und auch innerorganisatorisch gelang die Stärkung der Position von Frauen. Bereits 1907 trat ein reichsweiter Tarifvertrag für alle Hilfsarbeiter*innen im Druckgewerbe in Kraft.

Nur eine Ausrede

Integraler, ja notwendiger Teil der Gewerkschaftsarbeit war der Einsatz für Gleichberechtigung. Thiede reiste 1910 als Teil der gewerkschaftlichen Delegation zur internationalen sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen. Dort wurde auf Antrag der deutschen Sozialistinnen, unter anderen Paula Thiede und Clara Zetkin, ein internationaler Kampftag zur »Eroberung des allgemeinen Frauenwahlrechts« beschlossen. Die Verbandszeitschrift der Buchdruckereihilfsarbeiter*innen, die »Solidarität«, mobilisierte über Wochen und mit vier ausführlichen und kämpferischen Leitartikeln für den ersten Weltfrauentag 1911. Für die bisherige Entrechtung der Frauen, so schrieb Paula Thiede dort, gibt es »keinen stichhaltigen Grund, keinen außer der Ausrede, dass die Frauen seit je rechtlos gewesen sind« und endete mit der Forderung: »Gebt uns unsere Menschenrechte, gebt uns das Wahlrecht!«

In Berlin folgten am 19. März 1911 dem Ruf »Arbeiterinnen! Heraus zum Kampf!« etwa 50 000 Teilnehmer*innen, die eine der etwa 42 Veranstaltungen besuchten. Thiede sprach in einer großen Festhalle (bei »Ballschmieder’s Kastanienwäldchen«) in der Nähe des Bahnhofs Gesundbrunnen. Die Veranstaltung - der »Vorwärts« berichtet - war mit weit über 2 000 Zuhörenden dermaßen überfüllt, dass die »kleine Minderheit« der Männer in den Biergarten abgedrängt wurde - denn an diesem Tag hatten »die Frauen überall das Vorrecht«. Trotz der Überfüllung herrschte im Saal »eine Ruhe und Aufmerksamkeit, dass die Stimme der Rednerin klar und vernehmlich in den entferntesten Winkel drang«. Als Thiede dann zur Auflehnung »gegen die bisherige Unterdrückung« aufrief, fand dies jedoch »lebhaftesten Widerhall«.

Die Revolution von 1918 begründete schließlich das Frauenwahlrecht, für das Thiede und viele andere sich so engagiert hatten. Der internationale Frauentag, bei dessen erstmaliger Durchführung sie ihre Rede gehalten hatte, ist seit 2019 am 8. März gesetzlicher Feiertag im Land Berlin.

Während die Gewerkschaft der Buchdruckereihilfsarbeiter*innen aufgrund vieler qualifizierter und selbstbewusster Frauen verhältnismäßig gut über den Weltkrieg kam, erkrankte ihre Vorsitzende 1917 schwer. Sie konnte nur noch stark geschwächt an den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 teilnehmen, doch Thiede wollte »mit dabei sein, wenn Frauen nach langen Kämpfen, an denen sie so lebhaften persönlichen Anteil genommen hatte, ihr Bürgerrecht ausübten, zum ersten Male«.

Wenig später, in der Nacht vom zweiten auf den dritten März, um ein Uhr nachts, verstarb die Gewerkschafterin im Beisein ihres zweiten Ehemannes. In der »Solidarität« teilte der Verbandsvorstand mit, dass er sich ob der schieren Menge von Kranzsendungen und Beileidsbekundungen außer Stande sah, »im einzelnen zu danken«. Trotz erschwerter Anreise (»Generalstreik, Verkehrshindernisse, Barrikadenkämpfe in den Straßen Berlins«) hielten am 8. März 1919 an Thiedes Grab einige Weggefährten Abschiedsreden. Kein Schmuck, sondern ein Schwert, so hieß es dort, müsse auf ihr Grab gelegt werden »als Zeichen, dass [Paula Thiede] immer eine tapfere Kämpferin gewesen ist im Befreiungskampfe der Arbeiterschaft«.

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