Sozialismus in French-Houses

80 Jahre in der Diaspora: Ein Bildband über eine kleine armenische Stadt in Libanon.

  • Radek Krolczyk
  • Lesedauer: 4 Min.

Anjar liegt in der libanesischen Bekaa-Ebene, nahe der großen Verbindungsstraße zwischen Beirut und Damaskus. Zur syrischen Grenze sind es gerade mal zehn Kilometer.

Die kleine Stadt wurde 1939 zwischen die kahlen Hügel der rauen Landschaft gesetzt, rund 900 Meter über dem Meeresspielgel, ins Nichts. Jede größere Ortschaft liegt mindestens 60 Kilometer entfernt.

Die Gründung von Anjar war eine politische Notwendigkeit. Nach dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich hatte sich eine Gruppe von 4000 Personen zunächst auf den Berg Musa Dağı zurückgezogen. Von der Flucht der Armenier ins Gebirge im Süden der Türkei erzählt Franz Werfel in seinem Roman »Die vierzig Tage von Musa Dagh«. Tatsächlich lebten die geflohenen Familien dort mehr als 20 Jahre, organisiert in sechs Dörfern, bis neuerliche Feindseligkeiten der Türken sie erneut zur Flucht zwangen. Mit Hilfe der französischen Kolonialmacht konnten sie in 360 Kilometern Entfernung, in der Bekaa-Ebene ein unbesiedeltes Gebiet von 1500 Hektar erwerben. Die Überfahrt wurde mit Lastwagen organisiert. An der Besiedlung des Landes war maßgeblich die Armenische Revolutionäre Förderation beteiligt. Eines der wichtigsten Vorbilder für diese Partei war die jüdische Kibbuz-Bewegung, die unter dem britischen Mandat in Palästina sozialistisch orientierte Modelle von Lebens- und Arbeitszusammenhängen probierte.

Der Fotograf Vartivar Jaklian hat nun zum 80-jährigen Bestehen von Anjar einen großen Band vorgelegt, der den Ort in seiner heutigen Verfasstheit dokumentiert. Obwohl Jaklian in Anjar aufgewachsen ist, sind seine Bilder von der Stadt wenig narrativ. Im Gegenteil: Die wirken distanziert und ordnend. Im Mittelpunkt steht nicht das alltägliche Leben der kleinen armenischen Community, sondern die Organisation der Stadt selbst und ihre geografische Lage.

Menschen kommen in den fotografierten Panoramen nur selten vor. Jaklian unternimmt in seinen Bildern mehrere Umrundungen des Ortes. So verfolgt er etwa die Entwicklung der sogenannten French-Houses - sehr einfache, einstöckige Wohnhäuser, die der französische Hochkommissar Gabriel Puaux für jede der übergesiedelten armenischen Familien bauen ließ. Die Häuser verfügten über lediglich ein Zimmer, ein Waschraum war in einem separaten Gebäude untergebracht. Zu jedem der French-Houses gehörten 400 Quadratmeter Land für den Anbau von Getreide, Obst und Gemüse. Der Neuanfang im Libanon hatte also in der Tat starke sozialistische Züge. Denn alle Bewohner der neu gegründeten Enklave hatten dieselben Startbedingungen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Franzosen ursprünglich Häuser mit zwei Zimmern geplant hatten, wegen der Kriegskosten in Europa allerdings ihre Ausgaben reduzieren mussten. Eins der Zweiraumhäuser immerhin wurde realisiert. In diesem war die Stadtverwaltung untergebracht, leider wurde es 1990 abgerissen.

Jaklians Fotografien zeigen die kleinen French-Houses als nun leer stehende oder umgenutzte Monumente, überall in der Stadt verteilt. Die Bewohner leben heute in größeren Häusern, die wie Variationen der ursprünglichen French-Houses aussehen.

Des Weiteren beschäftigt sich Jaklian mit den religiösen Institutionen der Stadt: Es gibt eine katholische, eine evangelische und eine orthodoxe Kirche, jeweils mit dazugehörigen Plätzen und Schulen. Es wird deutlich, dass die kleine Ortschaft, in der heute noch etwa 3000 Menschen leben, sehr heterogen ist. Ein Zentrum für Angehörige aller drei Religionen hat Anjar ebenfalls: das Musa Dagh Resistance Memorial. Denn die Menschen haben zwar unterschiedliche Konfessionen, aber eine gemeinsame tragische Geschichte. Das Resistance Memorial ist ein modernistisches Ensemble aus Rundbögen an den Seiten und einer Betonstele in der Mitte des Platzes.

Jaklians Buch liegt eine DVD bei. Ein Film von Hossep Baboyan, der sowohl Gespräche mit Jaklian als auch mit Bewohnern von Anjar zeigt, insbesondere mit dem Bürgermeister. Dabei erfährt man, dass die Menschen ihre Stadt bis heute als eine Art Provisorium begreifen. Die Älteren haben immer an eine Rückkehr in die Berge im Süden der Türkei geglaubt; die Jüngeren sind weggezogen, auch um vor dem Bürgerkrieg zu flüchten, der 1975 begann und erst 1990 endete. Nun sollen mit Geldern von der UNESCO die umliegenden kargen Hügel wieder aufgeforstet werden.

Mit seinem Buch hat Vartivar Jaklian die besondere Geschichte einer diasporischen Gemeinde nicht nur anschaulich, sondern überhaupt erst wahrnehmbar gemacht.

Vartivar Jaklian (Hg.): Anjar 1939-2019. Rebuilding Musa Dagh in Lebanon. Hatje Cantz, 144 S., 100 Abb., geb., 40 €.

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