Ewiger Spielball

Die Iraker haben genug vom Iran-USA-Konflikt.

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 1. Oktober 2019 begann sie, wie fast alle Protestbewegungen in der arabischen Welt, mit der Forderung nach einem besseren Leben. Hohe Arbeitslosigkeit, Inflation, schwache staatliche Infrastruktur und die Tatsache, dass sozialer Aufstieg nur durch Partizipation im korrupten Staatswesen erlangt werden kann, sowie die scheinbar nie endenden Fehden zwischen konkurrierenden Stämmen, Ethnien und Konfessionen, trieben Hunderttausende Iraker auf die Straße. Die Forderungen der Demonstranten wurden von einer bislang nicht offen zu Schau getragenen Wut begleitet; Wut gegen jene, die für die eigene missliche Lage verantwortlich sein sollen: die eigene Regierung - für viele nichts weiter als ein korrupter Spielball Irans und der USA.

Die Situation eskalierte rasant. Das Aktivistenehepaar Hussain und Sara Almadani wurde bereits am 2. Oktober in ihrem Haus in der südirakischen Stadt Basra von Unbekannten ermordet. Am dritten Tag der Proteste waren etwa 20 Menschen ums Leben gekommen; Bis heute sind es über 400. Augenzeugen berichten, dass ein Großteil der Gewalt von pro-iranischen Milizen der Haschd al-Shaabi ausging, den sogenannten Volksmobilisierungseinheiten.

Der Aufbau dieser Milizen seit 2014 sowie die gewaltsame Reaktion auf die Proteste gehen auf die Konten des am 3. Januar ermordeten Generals Qassem Soleimani und seiner rechten Hand, dem Oberbefehlshaber der Haschd al-Shaabi, Abu Mahdi al-Muhandis. Wie die »Süddeutsche Zeitung« berichtete, saß Soleimani bei einer aufgrund der Demonstrationen einberufenen Dringlichkeitssitzung der Regierung bei Ankunft des Premierministers bereits auf dessen Stuhl. Derzeit verkörpern die Haschd al-Shaabi für viele Iraker eine größere Gefahr als die im Land stationierten US-Truppen. »Raus, raus Iran!« skandierten die Menschen monatelang. Doch um zu verstehen, wie sich dieser seinen Machteinfluss derart ausbauen konnte, muss man 40 Jahre in die Vergangenheit blicken.

1979 verändert alles

Im Jahr 1979 finden zwei parallele Ereignisse statt, welche die Region für immer verändern sollten: zum einen die islamische Revolution in Iran mit dem Sturz des Schahs Mohammad Reza Pahlavi, einem engen Verbündeten der USA, und der Implementierung eines vom religiösen Narrativ bestimmten Systems. Zum anderen übernimmt in Irak der Vizepräsident, Saddam Hussein, durch eine blutige Säuberungsaktion innerhalb der irakischen Baath-Partei die Macht. Diese Ereignisse in beiden Ländern führen zu einem Verfall der diplomatischen Beziehungen. Das vom gestürzten Schah und dem damaligen Vizepräsidenten Hussein 1975 unterzeichnete Abkommen von Algier, das den Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten regelt, wurde von beiden Seiten für nichtig erklärt.

Ein Großteil der irakischen Bevölkerung ist schiitisch, und in Iran entwickelt sich in diesen Jahren die erste Regierung, die sich über den schiitischen Islam als Staatsreligion definiert. Damit beginnt auch die Angst Saddams vor einem Einfluss des Nachbarn auf die Bevölkerung. Unter anderem als Reaktion auf ein gescheitertes Attentat auf einen von Saddams Ministern durch eine militante schiitische Gruppe, die er als »von Iran gelenkt« definiert, erklärt er Teheran im September 1980 den Krieg. Bis zum Waffenstillstand 1988 sterben über eine halbe Million Menschen.

Die USA sowie Israel waren am Anfang des Iran-Irak-Krieges hin- und hergerissen. Zum einen war Saddam Hussein ein Verbündeter der Sowjetunion; seine regelmäßigen Drohungen gegen Israel bereiteten Tel Aviv und Washington Sorge. Auch die politischen Entwicklungen in Iran - der Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zu Israel und der antiamerikanische Ton - wirkten beunruhigend. Im Endeffekt wurden beide Seiten unterstützt: Irak vor allem durch Informationen und über eine Milliarde US-Dollar. Iran erhielt Waffen und erlaubte im Gegenzug die Ausreise Tausender persischer Juden nach Israel.

Kein Krieg der Ideologen

Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre bricht auch ein großer Verbündeter und das ideologische Gerüst vollständig weg, das lange hinter Staaten wie Syrien oder Irak stand. Trotzdem fühlt sich Saddam sicher genug, um das Nachbarland Kuwait und die dortigen immensen Ölquellen zu besetzen. Doch er hatte sich verrechnet: Etliche arabische Staaten, die sich zunehmend durch den größenwahnsinnig scheinenden Diktator mit Expansionsabsichten bedroht fühlten, beteiligten sich am US-amerikanisch geführten Militärbündnis. Darunter auch Syrien mit über 14 000 Soldaten unter Führung des damaligen Präsidenten Hafiz Al-Assad. Saddam wird im Zweiten Golfkrieg nicht nur besiegt, sondern es wird an ihm ein Exempel statuiert. Die Bilder der durch die US-Armee massakrierten irakischen Soldaten auf der Flucht gingen um die Welt, wurden aber vor allem von der arabischen Bevölkerung wahrgenommen.

Man habe die nuklearen Fähigkeiten Iraks »in die Steinzeit zurückgebombt«, behauptete der damalige US-Präsident George H. W. Bush. Die im Zuge des Krieges implementierten Sanktionen bringen das Land an den Rande des Zusammenbruchs, die Vereinten Nationen sprechen von jährlich bis zu 90 000, durch die Sanktionen bedingte, zivile Todesfälle. In den 1990er Jahren beantragten knapp 200 000 Iraker in Europa Asyl. Der iranische Einfluss auf Teile der schiitischen Bevölkerung Iraks, die Saddam rigoros unterdrückte, wuchs. Der Autor Aktham Suliman spricht deshalb vom Zweiten Golfkrieg auch als »Startschuss für das Erstarken der islamistischen Strömungen als Ersatzideologie«, welche sich durch den Wegfall der Sowjetunion und der nun scheinbaren US-amerikanischen Übermacht ausbreitete.

Als die USA 2003 unter dem als falsch erwiesenen Vorwurf des Besitzes der Chemiewaffen in Irak einmarschierten, wurden auf einmal innerhalb der Bevölkerung jene Kämpfe zwischen Konfessionen und Ethnien ausgetragen, die Saddam mit aller Kraft unterdrückt hatte. In Irak wird diese Entwicklung häufig mit folgender Metapher beschrieben: »Man hat den Deckel vom kochenden Topf genommen.«

Auch der Islamische Staat formierte sich in dieser Zeit und schaffte es, im Jahr 2014 weite Teile des Landes an sich zu reißen. Als Reaktion wiederum auf den IS formierten sich die Milizen der Haschd al-Shaabi unter Anleitung Soleimanis. Als diese den IS weitgehend zurückdrängten, lösten sie sich keineswegs auf, sondern werden in die irakischen Sicherheitskräfte integriert. So konnte sich Iran nicht nur militärisch, sondern auch politisch in Irak festbeißen.

USA rettet den iranischen Einfluss

Am 3. Januar 2020 wurde der Anführer der Quds-Brigaden und Architekt hinter dem Netzwerk pro-iranischer Milizen in Irak, Qassem Soleimani, durch eine US-amerikanische Drohne getötet. Damit steht die Region vor einem möglichen neuen Krieg. Die Angst der irakischen Bevölkerung, dass dieser erneut auf ihre Kosten ausgetragen wird, ist groß. Die US-amerikanische Provokation ging auch an der Protestbewegung nicht still vorbei. Während im Oktober noch »Iran raus!«-Rufe übertönten, liegen nun beide Staaten gleichauf im Visier der Demonstranten. Doch der Mord an Soleimanis hat die pro-iranischen Kräfte in Irak noch einmal bestärkt.

In diesen Tagen ist es deshalb etwas stiller geworden um die irakische Protestbewegung, doch tot ist sie nicht. In mehreren Städten wurden Trauerfeiern für die Gefallenen Soleimani und al-Muhandis blockiert. In der Stadt Nassiriyah wurde das Hauptquartier der Haschd al-Shaabi angezündet. Wie es weitergeht, lässt sich nicht absehen. Denn in den vergangenen Monaten erlebten mehrere mehrheitlich schiitischen Länder ähnliche Protestbewegungen. In Libanon aber auch in Iran selbst gingen Hunderttausende auf die Straße. Es ist möglich, dass der Mord an Soleimani dem indirekt ein Ende bereitet hat.

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