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Ratlos in die Hauptrunde
Ihre Abwehrschwäche, wie auch beim Sieg gegen Lettland, lässt Deutschlands Handballer bei der EM verzweifeln
Patrick Wiencek lief in Richtung Auswechselbank und schüttelte den Kopf. Der Kreisläufer vom THW Kiel konnte nicht glauben, dass der Gegner schon wieder mit einfachen Mitteln zu einem Treffer gekommen war. Das Alarmierende am Montagabend war nicht, dass es die Geste gab, sondern dass sie in der zweiten Halbzeit gegen Lettland immer wieder zu sehen war. Fehler gehören zu einem Handballspiel, aber die deutsche Mannschaft hat bei der Europameisterschaft derzeit ein gravierendes Problem: Ihre ursprüngliche Stärke ist zu einem Problemfeld geworden. Vor der Hauptrunde, die am Donnerstag mit der Partie gegen Belarus startet, hat das Team von Christian Prokop ein veritables Abwehrproblem.
Am Dienstagmorgen hob der Flieger mit den deutschen Handballern an Bord von Trondheim in Richtung Wien ab. Ein Ortswechsel nach der ersten Turnierphase. Spieler und Trainer werden darauf gehofft haben, dass die Verunsicherung am Boden bleiben würde. »Wir sind jetzt erst einmal alle relativ froh, dass wir ein bisschen abschalten können«, erklärte Rückraumspieler Julius Kühn. »Ich will nicht sagen, dass wir von hier wegkommen. Aber dass wir in ein neues Umfeld kommen, eine neue Stadt, mal etwas anderes.« Mit der malerische Stadt im Norden Norwegens verbindet die deutsche Mannschaft keine guten Erinnerungen - auch wenn das Primärziel Hauptrundequalifikation gemeistert wurde. Aber: Bei der 26:33-Niederlage gegen Spanien und dem 28:27-Zittersieg gegen Lettland gab es keine Anzeichen, dass es in der zweiten Turnierphase in Österreich einen Leistungsaufschwung geben wird.
Deutschland spielte in den vergangenen 15 Jahren nicht immer in der Weltspitze mit. In der Endphase der Ära mit Heiner Brand als Bundestrainer landete die Auswahl des Deutschen Handballbundes bei der EM 2010 auf dem zehnten Rang, die WM 2011 endete auf dem elften Platz. Mit Nachfolger Martin Heuberger verpassten die Deutschen gar die Qualifikation für die EM 2014. Vom Niveau der besten Teams waren sie in dieser Zeit weit entfernt, besaßen aber immer ein Qualitätsmerkmal: Die Abwehr in Verbindung mit den Torhütern genügte höheren Ansprüchen.
Im vergangenen Jahr, bei der Heimweltmeisterschaft, schafften es die Deutschen vor allem deshalb ins Halbfinale, weil sie in der Defensive derart unüberwindbar waren, dass der Boulevard von der »Mauer von Berlin« sprach. Der Innenblock wurde in erster Linie von Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek gebildet, im Tor stand Andreas Wolff - und die Gegner verzweifelten. In Trondheim bildeten die beiden Kieler erneut die Abwehrzentrale, dahinter lauerte der Torwart von KS Kielce auf Paraden, aber das Resultat war ein völlig anderes. Die Mauer - um im Bild zu bleiben - ist löchrig geworden.
»Wir waren in der Abwehr einfach nicht kompakt«, sagte Wiencek nach dem wackligen Sieg über die Letten. Auch gegen die Spanier zuvor hatten es die Deutschen nicht geschafft, die Abwehrzentrale zu schließen. Das verwundert, weil Pekeler und Wiencek eingespielt sind, die Harmoie stimmen sollte. Aber immer wieder gelang es den Außenseitern aus Lettland, ihren Kreisläufer freizuspielen, immer wieder erspähten sie Lücken im deutschen Abwehrverbund und brachen bis zum Kreis durch.
»Alles wirkte irgendwie verkrampft«, sagte Johannes Bitter. Der erfahrene Torhüter vom TVB Stuttgart teilt sich den Job zwischen den Pfosten mit Wolff, blieb aber wie der Kollege blass. »Wir haben wenig Hilfe von den Torhütern bekommen«, bemängelte Bundestrainer Prokop. Allerdings hatten es die Keeper schwer, weil die Gegenspieler immer wieder frei vor ihnen auftauchten. Die schlechten Fangquoten von Bitter (24 Prozent) und Wolf (25) im Turnierverlauf sind nicht in erster Linie die Ursache der Abwehrschwäche, sondern eher die Folge.
Die Tatsache, dass die Protagonisten der »Mauer von Berlin« auch in Trondheim Dienst taten, bedeutet, dass Qualitätsmangel das aktuelle Problem eigentlich nicht erklären kann. Vielmehr wirken die Deutschen in der Abwehr übereifrig. Die Spieler wollen oft zu schnell zu viel, stellen sich mit zwei Verteidigern einem Angreifer entgegen und entblößen damit zwangsläufig Räume, die der Gegner mit ein, zwei einfachen Pässen nutzen kann.
Die Hoffnung ruht nun darauf, durch einen Ortswechsel eine Art Neuanfang machen zu können. Gegen Belarus am Donnerstag und Kroatien am Sonnabend geht es in Wien weiter. Eine Niederlage würde die Hoffnung auf das Halbfinale auf ein Minimum schrumpfen lassen. Prokop jedenfalls glaubt an einen Neustart: »Wir hoffen auf viele deutsche Fans, die werden wir brauchen. Das ist wichtig für die Emotionalität. Dann soll das Team näher zusammenrücken und Gas geben.« Das gilt besonders für die Abwehrarbeit.
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