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Chance für neues Wahlrecht sinkt
Erneut scheint eine Reform an der Verweigerung der Union zu scheitern
598 Mitglieder des Bundestages sieht das Gesetz vor, denn 299 Wahlkreise gibt es in Deutschland. 299 Direktmandate über die Erststimmen der Wähler plus 299 Mandate über die Listen der Parteien, macht 598 Sitze. Doch nicht 598, sondern 709 Abgeordnete sitzen derzeit im Reichstag zu Berlin. Nach der Wahl 2013 waren es 631 Parlamentarier, und nach der nächsten Wahl könnten es schon 800 Abgeordnete sein. Grund ist ein Systemfehler im Wahlrecht, wenn man so will.
Bei Bundestagwahlen entscheiden die Zweitstimmenanteile über die Stärke der Fraktionen. Zugleich kommen alle direkt, also über die Erststimme gewählten Abgeordneten (in jedem der 299 Wahlkreise einer) auf jeden Fall in den Bundestag. In diesen beiden Grundsätzen liegt ein Widerspruch. Denn wenn Parteien mehr Direktmandate erringen, als ihnen über das Zweitstimmenergebnis zustehen, wächst ihre Größe durch die sogenannten Überhangmandate überproportional. Die korrekten Anteile nach dem Stimmergebnis der Wahl werden durch Ausgleichsmandate an die anderen Fraktionen wieder hergestellt. Ergebnis: Immer mehr Abgeordnete.
Die eigentlich unerwünschte Vergrößerung des Parlaments ist seit vielen Jahren ein erkanntes Problem, alle Bundestagsparteien würden es angeblich gern beheben. Nur: Sie tun es nicht. Und das, obwohl auch die letzten beiden Bundestagspräsidenten, die der CDU und damit der seit Jahren größten Fraktion im Bundestag entstammen, eine Verkleinerung des Parlaments zu ihrem Ziel erklärt hatten. Norbert Lammert scheiterte damit ebenso wie Wolfgang Schäuble, der derzeitige Präsident. Letzterer zumindest im ersten Anlauf; eine von Schäuble initiierte Kommission ging im April des vergangenen Jahres ohne Einigung auseinander.
Doch es wird weiter debattiert. Und tatsächlich hat die Unionsspitze bei ihrem Treffen am vergangenen Wochenende in Hamburg erstmals erkennen lassen, dass Teile der CDU sich offenbar nicht länger einer Verringerung der Zahl von Wahlkreisen widersetzen. Dies ist eine der Möglichkeiten, die Direktmandate einzudämmen und damit rechnerisch auch die Zahl der Listenmandate zu begrenzen. Auch Wolfgang Schäuble hatte im April 2019 in einem Brief an die Fraktionsvorsitzenden vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu reduzieren. Ein gemeinsamer Antrag der Oppositionsfraktionen FDP, LINKE und Grüne sieht die Zahl von 250 vor, bei gleichzeitiger »moderater« Erhöhung der Bundestagsmandate auf 630. Bisher verweigerte sich die Union dem Vorschlag strikt, und die SPD verwirrte mit widersprüchlichen Stellungnahmen.
Nur vage deutete auch die CDU-Spitze in Hamburg ein Umdenken an. Ein konkretes Angebot liegt nicht vor, und ebenso fehlt ein Gesprächsangebot an die anderen Fraktionen - daraus weist Friedrich Straetmanns hin. Der Bundestagsabgeordnete ist Justiziar der Linksfraktion und war ihr Vertreter in der Schäuble-Kommission. Er werde alles unterstützen, was »in die richtige Richtung geht«. Doch übertriebene Hoffnung hegt Straetmanns nicht. Schon hat die CSU erkennen lassen, was sie von den Gedankenspielen pro Wahlkreisreduzierung hält: nichts. Kein Wunder - profitiert doch gerade die CSU von den Direktmandaten aus den bayerischen Wahlkreisen, mit deren Zahl sie auch bei der jüngsten Bundestagswahl ihr Zweitstimmenergebnis übertraf.
Zudem wird es knapp für eine Wahlrechtsänderung rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl. Im Frühjahr beginnen die Parteien schon mit der Kandidatensuche in den Wahlkreisen. Eine Verringerung der Wahlkreiszahl ist zudem ein aufwendiges Verfahren, das auch juristischen Widerspruch vorausahnen lässt. Das ist schon nicht mehr zu schaffen, schätzen die meisten Beteiligten ein. Erst recht ist nicht darauf zu hoffen, dass ein weiteres Problem mit der Wahlrechtsänderung gelöst werden könnte, wie es die LINKE auch in der Schäuble-Kommission - ebenfalls vergeblich - vorgeschlagen hatte: das der zu geringen Zahl weiblicher Abgeordneter. Nur die Grünen hätten ihn unterstützt, so Straetmanns. Umso ärgerlicher findet er eine jüngst in der Plenardebatte von der SPD vorgetragene Behauptung, allein sie wolle mit der Wahlrechtsreform auch das Problem fehlender Parität im Bundestag lösen. Auf Druck auch der SPD habe die LINKE Abstand von der Einbeziehung des Paritätsproblems in die Wahlrechtsreform genommen.
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