Gegenrede

Was denken Experten und Journalisten zum Thema Hate Speech? Wir haben nachgefragt

  • Lesedauer: 4 Min.

Immer weniger Wutmails sind anonym, selbst Drohungen kommen inzwischen mit vollem Namen und Adresse an. In Zeiten, in denen selbst Staats- und Regierungschefs Hass per Twitter verbreiten, setzt sich weltweit der Glaube durch, es wäre in Ordnung, andere Menschen zu beleidigen und zu bedrohen. Mit anderen Worten: Menschenverachtende Dinge werden sagbar, sie werden normalisiert. Wer das kritisiert, bekommt zu hören, er schränke die »Meinungsfreiheit« ein.

Beeinflusst das journalistische Arbeit? Ich kenne Journalistinnen und Journalisten, die nur noch ungern über Themen wie Migration, Flüchtlinge, Klimawandel schreiben, über Themen also, die Wutschreiber triggern. Ich kann das nachvollziehen, manche fürchten um ihre Sicherheit oder um die ihrer Familie. In Redaktionen wird mehr als früher über Wortwahl diskutiert, darüber, wie man so präzise wie möglich formuliert.

Das ist prinzipiell gut, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass man den Verfassern von Hassnachrichten unnötig nach dem Munde schreibt, so wie manche Politiker ihnen nach dem Munde reden. Eine ernsthafte, umfassende Debatte darüber, was wir Hass und Hetze entgegensetzen, wie wir Rassismus, Antisemitismus und Menschenverachtung eindämmen können, was wir also gesamtgesellschaftlich tun können und müssen, um eine Radikalisierung zu verhindern, findet nicht statt. Nicht im Journalismus, nicht in der Politik, nirgendwo. Und das ist beängstigend.
Hasnain Kazim

Hasnan Kazaim ist Autor des Buches »Auf sie mit Gebrüll! … und mit guten Argumenten«, das im Februar im Penguin-Verlag erscheint.

»Hass ist keine Meinung«, verkündet das No Hate Speech Movement seit Juli 2016, dem offiziellen Start dieser internationalen Bewegung in Deutschland, und sorgte damit für vieles: viel Aufmerksamkeit für das Problem Hass im Netz, viel Raum für die Perspektive der von Hate Speech Betroffenen, außerdem auch für viele verletzte Gefühle, offensichtlich, denn seit diesen ersten Wochen tummeln sich Hass und Hetze in den Kommentarspalten der Bewegung.

All die Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre, nicht nur die eigenen, sondern auch die von engagierten Online-Aktivist*innen und Expert*innen, hat das No Hate Speech Movement gesammelt und aufbereitet: einerseits im praktikablen Leitfaden »Wetterfest durch den Shitstorm«, der mit Tipps und Tricks zum Umgang mit Hass im Netz aufwartet, andererseits im einzigartigen Helpdesk, der als Online-Instrument die eigene Gegenrede unterstützt.

Neben diesen nützlichen Hilfestellungen, empfehlen wir außerdem das Buch »Gegen den Hass«: In ihrem Essay plädiert die Autorin Carolin Emcke für mehr Mut zur Gegenrede und ein vielfältiges »Wir«. Unbedingt lesenswert ist auch das Buch »Eine Frage der Moral« von Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, der erklärt, warum wir eine politisch korrekte, gerechte Sprache brauchen.
Sina Laubenstein

Mehr Infos: www.no-hate-speech.de

»Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau«. Die satirische Umdichtung des Kinderlied-Klassikers »Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad« im WDR hat zum Jahreswechsel 2019/20 zu veritabler Aufregung in der rechts-alternativen Social-Media-Blase geführt. Der Sender reagierte mit Sondersendung samt Entschuldigung und Löschung des Beitrages. Wie kann es sein, dass ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk-Sender sich durch die gespielte Empörung einiger deutlich rechts außen positionierter Twitter-Accounts beeindrucken lässt? Auf diese Frage bietet das Buch »Die große Gereiztheit« von Bernhard Pörksen vielfältige Antworten. Der Professor für Medienwissenschaften an der Uni Tübingen entfaltet seine Theorie von der »Empörungsdemokratie« in dem Buch von 2018. Demnach gilt im Web 2.0 eine Asymmetrie von Anlass und Effekt: Minimale kommunikative Anstöße können maximale Wirkungen entfalten. Das Buch hilft zu verstehen, warum die neuen Medien eine Dynamik der Eskalation begünstigen. Die Verantwortlichen des WDR hätten hier lernen können, was einen Shitstorm von gerechtfertigter Empörung über einen Skandal unterscheidet. Wer verstehen will, wie sich unsere Idee von Wahrheit und der Charakter von Macht und Autorität unter digitalen Vorzeichen verändern, ist hier ebenfalls auf der richtigen Spur.

Pörksen bietet auch Vorschläge, wie wir unsere Demokratie retten können: Als »redaktionelle Gesellschaft« bezeichnet er einen Zustand, in dem die Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung geworden sind. Ohne Frage: Die derzeitige Macht der Manipulation und die Erfolge der extremen Rechten sind bedenklich. Aber Pörksen warnt davor, sich aus Angst davor zu einem dystopischen Determinismus à la »Weimar 2.0« verführen zu lassen.

Stattdessen brauchen wir Wissen über die sozialen Netzwerke und darüber, wie sie unsere Gesellschaft beeinflussen. Und die Überzeugung, dass wir als Einzelne mündig sind, sie mit zu formen.
Oliver Saal

Mehr Infos: www.amadeu-antonio-stiftung.de

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