Fenster zum Stacheldraht

Erinnerungen an drei Ex-Gefangene, die in Auschwitz die Gedenkstätte aufbauten.

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 8 Min.
tille Zeugen: Häftlingsbaracken und Koffer der Ermordeten sowie Steine der Erinnerung am ehemaligen Krematorium von Auschwitz-Birkenau
tille Zeugen: Häftlingsbaracken und Koffer der Ermordeten sowie Steine der Erinnerung am ehemaligen Krematorium von Auschwitz-Birkenau

Dies ist die Geschichte von drei Männern, die Auschwitz überlebt und ihr weiteres Leben der Erinnerung daran gewidmet haben. Es waren Polen. Nach Auschwitz wurden sie, wie Tausende ihrer Landsleute, nicht als Juden verschleppt. Sondern weil sie zum polnischen Widerstand gehörten.

Ingrid Heinisch

Ingrid Heinisch, Jahrgang 1958, ist freiberufliche Journalistin. 1984/85 arbeitete sie als Freiwillige in der Gedenkstätte Auschwitz; das Thema ließ sie nicht mehr los. Seit Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit der NS-Diktatur und ihren Folgen.

Kasimierz Smolen traf es zuerst. Gerade 20 Jahre alt war er, als er mit 250 anderen im April 1940 in seiner Heimat Chorzow verhaftet wurde: »Man sagte meiner Mutter, in vier bis fünf Stunden sei ich wieder zu Hause«, sagte er einmal in dem ihm eigenen Humor: »Der Beamte hat sich etwas verschätzt. Es wurden viereinhalb Jahre.«

Im Gefängnis wurde er gefoltert. Er sollte Informationen über den Widerstand preisgeben. Schließlich kam er im Juli 1940 als einer der ersten nach Auschwitz. Seine Lagernummer war die 1237.

Wofür Auschwitz heute bekannt ist - die systematische Vernichtung der europäischen Juden, die Ausbeutung der Arbeitskraft der Eingesperrten -, davon konnte in diesen ersten Tagen und Monaten der Existenz des Lagers noch keine Rede sein. Es ging zunächst um den blanken Terror gegenüber der polnischen Bevölkerung. Es ging darum, ihren Widerstand endgültig in die Knie zu zwingen. Die Häftlinge mussten vollkommen sinnlose Tätigkeiten verrichten: Zum Beispiel waren Steine vom einen Ende des Appellplatzes zum anderen zu schleppen und dort aufzuhäufen, um sie dann wieder zurückzutragen.

Folter durch Turnen

Smolen erinnert sich noch, wie sie in den ersten Tagen mit kahl geschorenen Köpfen sieben Stunden lang Turnübungen vollführen mussten, die Gesichter stets in die Hochsommersonne gewendet. Viele der polnischen Gefangenen waren blond und eher hellhäutig. Man kann sich die Verbrennungen vorstellen.

Tadeusz Szymanski traf es als Nächsten. Er hatte sich schon lange vor dem Krieg in der Pfadfinderbewegung engagiert, auch an internationalen Treffen teilgenommen. So kam es, dass er am 2. Mai 1941 wegen seiner Zugehörigkeit zu den Pfadfindern verhaftet wurde. Nach Haft und Folter brachte man auch ihn nach Auschwitz. Dort erfuhr er nicht nur die Schikanen durch die SS-Bewacher, sondern auch Solidarität seitens polnischer Mitgefangener: »Meine Überraschung war noch größer, als ich von einem Polen, der aus Schlesien stammte, einen Briefbogen und eine Zwölfpfennigmarke geschenkt bekam. Er verpflichtete mich aber, dasselbe zu machen, wenn ich Geld haben würde. Diese Hilfe eines fremden Kameraden schon am ersten Tag gab mir Mut, um mein Leben zu kämpfen.«

Erster Schritt ins Dritte Reich
Vor 90 Jahren trat die NSDAP in die Thüringer Landesregierung ein.

Adam Zlobnicki schließlich wurde bei einer Straßenrazzia im Oktober 1943 in Warschau von den Deutschen verhaftet, zusammen mit vielen anderen. Es gab keine konkrete Anschuldigungen gegen ihn. Die ganze Gruppe wurde in das Lager gebracht, wegen angeblichen Widerstands. Die erste Station war das Quarantänelager. Dort wurden die neu Angekommenen mit Gymnastikübungen gequält: »Das war eine schwere Zeit. Wir waren vollkommen erschöpft.«

Tadeusz Szymanski und Kasiemierz Smolen waren inzwischen Schreiber im Aufnahmebüro der sogenannten Politischen Abteilung des Lagers. Im Herbst 1941 hatten die systematischen Deportationen von Juden »nach Osten« begonnen. So bestand ihre Aufgabe unter anderem darin, die in Auschwitz eintreffenden Transporte zu protokollieren. Diese Listen schrieben sie heimlich ab und schmuggelten sie mithilfe anderer Häftlinge aus dem Lager. Das war eines der wichtigsten Beweismittel nach dem Krieg für die Verbrechen der SS in Auschwitz.

Adam Zlobnicki blieb nicht lange in Auschwitz. Sein ganzer Block wurde in andere Lager verlegt, Endstation für ihn war Ebensee. In dem oberösterreichischen Nebenlager von Mauthausen sollten die Gefangenen Stollen in die Berge treiben. Darin sollten heimlich Waffen produziert werden. Zlobnicki magerte zum Skelett ab, auf etwa 40 Kilogramm. Die Befreiung im Mai 1945 erlebte er wie durch ein Wunder.

So alt wie ich
Die Fotografin Conny Höflich über ein fast unmögliches Bild

Tadeusz Szymanski erging es ganz ähnlich. Die letzten Monate des Krieges erlebte er im Lager Großrosen, nicht allzu weit von Auschwitz entfernt. Es gab dort kaum etwas zu essen. Mit letzter Kraft gelang es ihm, bei einem Transport zu fliehen.

Smolen dagegen blieb bis zum Ende in Auschwitz. Als die SS das Lager wenige Tage vor dessen Befreiung durch die russische Armee verließ, nutzte er mit ein paar Kameraden eine Gelegenheit zur Flucht.

Und dann, zwei Jahre später, fanden sich die drei im nun ehemaliger Lager Auschwitz wieder. Beziehungsweise in dem, was davon übrig war. Allzu viel war das nicht. In den Nachkriegswirren hatten Bauern aus der Umgebung die Gelegenheit genutzt und vor allem die Pferdestallbaracken abgerissen, um das Holz zu verbauen. Geblieben waren nur die Fundamente. Das Wenige, was an Spuren sichtbar war, galt es zu sichern. Wer sollte das tun, wenn nicht ehemals dort Eingesperrte? Niemand sonst schien anfangs Interesse daran zu haben.

Schrulliger alter Mann

Kasimierz Smolen beendete in Krakau sein Jurastudium. Er war ein wichtiger Zeuge in den ersten Auschwitzprozessen. Später wurde er Direktor des neu gegründeten Museums. Tadeusz Szymanski wurde Museumskurator und Adam Zlobnicki einfacher Arbeiter. Keiner von ihnen hatte sich diese Beschäftigung gewünscht. Sie fanden eine Aufgabe vor und übernahmen sie. Wohnung bezogen sie in den ehemaligen Büro- und Wirtschaftsgebäuden der SS. Auf der einen Seite blickten sie auf den Stacheldrahtzaun. Auf der anderen auf das Krematorium Nummer 1 - und den Galgen, an dem 1947 der Lagerleiter Rudolf Höß gerichtet wurde. Dort lebten sie bis zu ihrem Tod.

Smolen war ein Pragmatiker, Szymanski ein Visionär. Seine Ideen ermöglichten es, dass 1968 eine erste Gruppe westdeutscher Jugendlicher mit der evangelischen Organisation Aktion Sühnezeichen die Gedenkstätte nicht nur für einen Tag besuchte, sondern für eine Woche. Die jungen Leute halfen beim Erhalt. Angeleitet wurden sie dabei von Pan Adam, wie ihn alle nur noch nannten.

An Szymanskis Küchentisch entstand die Idee für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in der Nähe der Gedenkstätte. Ein gemeinsames deutsch-polnisches Projekt in Auschwitz, das war damals eine revolutionäres Unterfangen. 1987 wurde das Realität. Bis dahin kamen zwischen zehn und zwanzig deutsche Gruppen für jeweils eine Woche in die Gedenkstätte.

Höhepunkt dieser Besuche war stets ein Treffen mit dem Kurator Szymanski. Den Direktor, Kasimierz Smolen sahen die Jugendlichen hingegen lange nur von Weitem. Mit Pan Adam, dem Arbeiter, hatten sie dagegen täglich Kontakt.

Josef Burg will heim
Israel, Shoa, DDR: Über einen historischen Roman, der nie geschrieben wurde.

Dass auch er ein Häftling gewesen war, wussten sie zwar, realisierten es aber nicht. Sie zollten ihm oft wenig Respekt. Für sie war ein etwas schrulliger alter Mann, der ihnen langweilige Aufgaben zuteilte: Laub fegen mit Reisigbesen, Unkrautzupfen zwischen den Stacheldrahtzäunen, wie altmodisch! Dass er von modernerem Arbeitsgerät träumte, die Gedenkstätte solches aber nicht zur Verfügung stellen konnte, konnten sich die jungen Leute nicht vorstellen.

Ich selbst war 1984/85 eine sogenannte Freiwillige in der Gedenkstätte und so für die Organisation und die Betreuung der ASF-Gruppen zuständig. Ich versuchte den Gruppen zu vermitteln, wer ihnen da gegenüberstand. Manchmal ist es mir gelungen.

Ich arrangierte auch für jede Gruppe ein Treffen mit dem Direktor. Smolen sprach aber immer nur über die Aufgaben der Gedenkstätte. Lange Zeit weigerte sich strikt, von seiner eigenen Leidensgeschichte im Lager zu erzählen. Einmal wagte ein Jugendlicher doch die Frage: »Wie haben Sie eigentlich überlebt?« Seine Antwort lautete: »Soll ich mich dafür entschuldigen?«

Lange war daher Kurator Szymanski für die Jugendlichen das »Gesicht« des Gedenkens. In der Jugendbegegnungsstätte erinnert ein Saal an ihn, der seinen Namen trägt. Doch Szymanski erkrankte. Irgendwann war er zu schwach, Jugendliche zu treffen, 2002 verstarb er. Und plötzlich war es an Direktor Smolen, inzwischen Rentner, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Und nun weigerte er, der seinen Kurator um zehn Jahre überlebte, sich nicht mehr. Er wurde eine Art Held der Jugendlichen. Fragte man einen von ihnen, dann priesen sie seinen trockenen Humor. Dieser habe es ihnen ermöglicht, das eigentlich Unerträgliche zu verarbeiten, von dem er berichtete.

Für Pan Adams Geschichte aber hat sich niemals wirklich jemand interessiert, nicht einmal die Gedenkstätte. Die Interviews, die man mit ihm geführt hat, sind kurz und unvollständig. Vielleicht, weil auch er nicht gerne über Auschwitz sprach und über all das, was ihm dazu noch viel später in den Sinn kam. Etwa über die Albträume: »Manchmal träume ich, ich wäre wieder im Lager, ich will fliehen, man schlägt mich. Szenen, wie sie im Lager täglich vorkamen. Wenn ich aufwache, bin ich erschöpft, aber doch zufrieden, dass ich nicht mehr im Lager bin und alles nur ein Traum war.«

Wenn ich ihn darum bat, erzählte auch er den Jugendlichen seine Geschichte. Warum er das alles auf sich nahm? Es war seine Sorge um die Gedenkstätte. Am Ende ging es den drei Männern nur um eines: dass sie mit viel Glück überlebt hatten und deshalb ihre toten Kameraden und das unermessliche Unrecht, das ihnen widerfahren war, niemals vergessen werden durften.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -