Beschlagnahmt wegen Leerstands

Erstmals in Berlin wurde einer Eigentümerin ein Wohnhaus vorübergehend entzogen.

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.
Noch in diesem Jahr sollen wieder Namen auf den Klingelschildern des Hauses Meyerbeerstraße 78 in Berlin-Weißensee stehen. Ein Treuhänder soll das Gebäude instand setzen und die Wohnungen vermieten.
Noch in diesem Jahr sollen wieder Namen auf den Klingelschildern des Hauses Meyerbeerstraße 78 in Berlin-Weißensee stehen. Ein Treuhänder soll das Gebäude instand setzen und die Wohnungen vermieten.

Das gelbe Haus an der Ecke Smetanastraße 23 und Meyerbeerstraße 78 im Komponistenviertel in Berlin-Weißensee ist wohnungspolitisch eine kleine Sensation. Denn das Gebäude mit insgesamt 15 Wohnungen ist vom zuständigen Bezirksamt Pankow beschlagnahmt worden. Möglich wurde dies, weil die Wohnungen bereits seit den 90er Jahren leerstehen. Eine in jenen Jahren angefangene Sanierung wurde jäh abgebrochen, seitdem liegt das Haus im Dornröschenschlaf. Die Rollläden im Erdgeschoss sind heruntergelassen. Die Fenster in den oberen Geschossen sind gardinenlos, sie geben den Blick auf kahle Wände frei. 100 solcher leer stehenden Wohnhäuser gibt es laut Schätzungen des Berliner Mietervereins in der Hauptstadt, obwohl das gesetzlich verboten ist.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat das Bezirksamt daher bereits am 8. April 2019 einen Treuhänder eingesetzt, wie »nd« exklusiv erfahren hat - ein Novum in der Berliner Stadtpolitik. »Es bestehen keine Erfahrungen im Umgang mit den Regeln, sodass das Haus Smetanastraße 23/Meyerbeerstraße 78 als erstes Musterverfahren im Bezirk dient«, verrät der Pankower Baustadtrat Vollrad Kuhn auf Anfrage. Dem »nd« liegen Aufzeichnungen zu dem Fall vor, die zeigen, dass die Behörden einen langen Atem brauchen, um überhaupt so weit zu kommen.

Bereits Anfang 2018, da lief das Verfahren schon eine Weile, drohte der Bezirk der in Köln lebenden Eigentümerin ein Zwangsgeld von 95 000 Euro an, falls sie dem »Wohnraumrückführungsgebot« nicht Folge leistet. Die betagte Frau reagierte nicht, im Sommer wurde schließlich die Zwangsvollstreckung des Bußgelds beantragt. Weitere Monate verstrichen, bis der Gerichtsvollzieher sich schließlich gewaltsam Zutritt zur Wohnung der Eigentümerin verschaffte, um daraufhin festzustellen, dass das Geld nicht einzutreiben ist. In den Aufzeichnungen findet sich auch die Erklärung, warum die Frau nicht reagierte - sie soll der rechten Reichsbürgerbewegung nahestehen. Diese Menschen bestreiten die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als legitimer und souveräner Staat und lehnen deren Rechtsordnung ab, da sie von der Fortexistenz des Deutschen Reichs ausgehen.

Letztlich spielte die Komplettverweigerung der Hausbesitzerin dem Bezirk Pankow in die Hände. Denn in ähnlichen Fällen gelingt es Eigentümern immer wieder, die Beschlagnahmung durch die Einschaltung von Rechtsanwälten abzuwenden. So auch am Gardeschützenweg, Ecke Hindenburgdamm im Steglitz-Zehlendorfer Ortsteil Lichterfelde. Seit über 15 Jahren verfällt das Haus mit elf Wohnungen, das neben anderen Immobilien in der Hauptstadt einem pensionierten Radiologen gehört. Der Bezirksstadtrat für Bürgerdienste, Michael Karnetzki (SPD), dem das zuständige Wohnungsamt unterstellt ist, verhängte bereits Bußgelder von zusammen 30 000 Euro. Gegen das erste wurde geklagt, allerdings ohne Erfolg. Im Frühsommer 2019 kündigte der Stadtrat an, die vorübergehende Enteignung voranbringen zu wollen.

»Beim Gardeschützenweg 3 ist das Wohnungsamt noch immer dabei, gemeinsam mit dem Rechtsamt die Anordnung vorzubereiten, dass der Eigentümer als nächsten Schritt ein Sachverständigengutachten zum Sanierungsaufwand für die Wiederherstellung des Wohnraums zu beauftragen hat«, erklärt Karnetzki dem »nd«. Sollte er das nicht tun, würden Ersatzmaßnahmen auf seine Kosten veranlasst. »Dies sind alles noch Maßnahmen im Vorfeld eines Treuhänders«, so Karnetzki. Kommt der Eigentümer der Aufforderung der Einholung eines Gutachtens nicht nach, müsste der Bezirk zunächst selbst eines verfassen lassen und dem Eigentümer die voraussichtlichen Kosten mitteilen. Erst dann kann ein Treuhänder eingesetzt werden.

»Die Dinge entwickeln sich leider langsamer, als ich gehofft hatte«, bedauert der Stadtrat. Sorgfältiges Arbeiten sei jedoch notwendig, um nicht am Ende vor Gericht zu scheitern. Die größten Hindernisse bei der Umsetzung der Treuhänderregelung sei die fehlende Erfahrung mit dem neuen Instrument sowie Umstand, »dass wir nach den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens immer zunächst alle milderen Mittel (zum Beispiel Zwangsgeld) ausschöpfen müssen, bevor wir einen so großen Eingriff in die Eigentumsrechte eines Hauseigentümers vornehmen können, wie das die vorübergehende Wegnahme und Übergabe an einen Treuhänder ist«.

Dazu komme das Problem, dass seine Behörde überhaupt keinen baufachlichen Sachverstand für eine Maßnahme besitze, für die schätzungsweise ein siebenstelliger Betrag fällig werde. In Berlin wurde nämlich vor vielen Jahren eine fein ziselierte Doppelzuständigkeit für Wohnungen zwischen den Baustadträten und jenen für Bürgerdienste und den ihnen zugeordneten Ämtern etabliert. Immerhin soll nun das Wohnungsaufsichtsgesetz mit dem Zweckentfremdungsverbotsgesetz harmonisiert werden. Die Novellierung ist gerade im parlamentarischen Verfahren. Die Doppelzuständigkeit wird allerdings nicht aufgehoben, die Bezirke werden, wie es derzeit scheint, mit dem aufwendigen Verfahren größtenteils alleingelassen. Die zu erwartenden hohen Kosten für die Maßnahmen können jedoch nicht mehr als Argument für bezirkliche Untätigkeit herhalten. Im März 2019 hat Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) in einem Rundschreiben zugesichert, alle anfallenden Ausgaben zu übernehmen.

Um eine Enteignung handelt es sich bei der Einsetzung eines Treuhänders allerdings nicht. Wenn die Vermietung des Wohnraums sichergestellt ist und die entstandenen Auslagen dafür beglichen sind, wird das Gebäude wieder dem Eigentümer übergeben.

Im Bezirk Tempelhof-Schöneberg macht die Nachbarschaftsinitiative Friedenau seit fast vier Jahren Druck, den seit 2010 andauernden Leerstand des sogenannten Geisterhauses an der Ecke Odenwaldstraße und Stubenrauchstraße zu beenden. Das Verwaltungsgericht stellte im Oktober 2019 klar, dass die Eigentümerin verpflichtet ist, das Haus instand setzen zu lassen. Es bestätigte auch das eher symbolische Zwangsgeld von 5000 Euro, das der Bezirk verhängt hatte. Die Verwaltung habe »in aller Breite Bedenken und Hindernisse« dargelegt, heißt es in einem Offenen Brief der Initiative. »Die haben keine Lust«, so der Eindruck einer Aktivistin.

In Treptow-Köpenick hält es Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) wegen der Kosten für den Eigentümer gar für »unzumutbar«, zwei sehr lange leerstehende Häuser in der Köpenicker Altstadt wieder bewohnbar zu machen. Das ergab eine Schriftliche Anfrage des Bezirksverordneten Uwe Doering (LINKE), dem Vorsitzenden des Bauausschusses. »Der Eindruck entsteht, das Bezirksamt hätte sich entschieden, dem Verfall der zwei Gebäude tatenlos zuzusehen«, erklärt Doering. Das Bezirksamt unterlaufe damit seine eigene Anordnung, »weil es offensichtlich eine mögliche Auseinandersetzung vor Gericht scheut«.

In Pankow ist der Elan hingegen spürbar. Der Treuhänder hat bereits eine Notreparatur des Dachs ausführen lassen, im ersten Halbjahr soll die Instandsetzung beginnen. »Das Wohnungsamt rechnet damit, dass die Wohnungen noch 2020 wieder bewohnbar sein werden«, erklärt Stadtrat Vollrad Kuhn. »Eine fachliche Unterstützung in Form von Handlungsempfehlungen, wie von der zuständigen Senatsverwaltung angekündigt, ist bisher nicht gegeben worden«, kritisiert er.

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