- Politik
- Thüringen
Mathematik schlägt Politik
Rot-Rot-Grün in Thüringen, Teil zwei: Mehrheitsverhältnisse münden in ein Abenteuer
Die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten an diesem Mittwoch birgt viele Risiken. Auch wenn Bodo Ramelow gewählt wird, ist die daraus folgende Minderheitsregierung eine ohne Garantie. Dass die Linkspartei hier Hauptakteur ist, mag ihr das Selbstbewusstsein eines Pioniers für modernen Parlamentarismus verleihen. Schon mit der Tolerierung der rot-grünen Regierung Höppner zwischen 1994 und 2002 in Magdeburg garantierte die PDS die bisher längste Regierungszeit einer Minderheitsregierung in Deutschland. Die hielt 2858 Tage.
Dass die rot-rot-grüne Regierungskoalition in Thüringen ähnlich durchregieren kann, ist ausgeschlossen. Außerhalb der Koalition gibt es keine Fraktion, die die damalige Rolle der PDS übernehmen würde, und auch wenn Mike Mohring, Chef der CDU im Landtag, andeutet, »im Interesse des Landes« auf Fundamentalopposition zu verzichten und eigentlich sogar virtuell mitregieren möchte, hat das Kabinett keine festen Verbündeten. Die Ansage lautet deshalb: Abgestimmt wird künftig ohne Ansehen der Partei. Die Koalition sucht sich Verbündete je nach Sachlage - die AfD ausgeschlossen.
Minderheitsregierungen sind auch in Deutschland nicht gar nicht so selten. 31 Fälle gab es in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949, viermal davon auf Bundesebene - freilich immer nur für wenige Wochen. In Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gab es sogar je vier Regierungen ohne Mehrheit im Landtag.
Das Besondere sind in Thüringen die Umstände und Partner dieses Experiments. Minderheitsregierungen sind gewöhnlich das Ergebnis gescheiterter Koalitionen. Dass eine Regierung wie in Erfurt im Wissen um die Übermacht der Opposition antritt, ist hingegen selten - alle bisherigen Minderheitsregierungen, die so zustande kamen und schon in Unterzahl antraten, wussten Teile der Opposition hinter sich. Auch das Magdeburger Modell hat deshalb so lange funktioniert.
In Thüringen sind die Mehrheitsverhältnisse unerbittlich; der Koalition fehlen vier Stimmen, Sympathisanten in der Opposition gibt es nicht. Für den dritten Wahlgang am Mittwoch hofft Bodo Ramelow auf eine einfache Mehrheit; die Stimmenthaltung der CDU - drittgrößte Kraft im Landtag hinter der AfD - könnte ihm diese verschaffen. Zwar verbietet die Beschlusslage der CDU eine Wahl der LINKEN, doch hat Fraktionschef Mohring bereits erkennen lassen, dass er eine Regierung Ramelow akzeptabler findet als gar keine Regierung.
Die Offenheit gegenüber dieser Minderheitsregierung steht in der öffentlichen Debatte für gedankliche Flexibilität, für den Neuerergeist, den es braucht, um angesichts zunehmender Parteienvielfalt und politischer Diversifizierung das Land regierbar zu halten. Minderheitsregierungen allgemein versprechen Abwechslung, spannende Parlamentsdebatten und den offenen Ausgang sonst vorgefertigter politischer Entscheidungen. In der Linkspartei wird solcherart Experimentierfreude jetzt gern gleichgesetzt mit dem Anspruch auf Gesellschaftsveränderung.
Doch zu vermuten ist das Gegenteil, nämlich dass gerade die LINKE für ein so flexibles Politikverständnis in der breiten Wählerschaft keinen Bonus erwarten kann. Die Suche nach Mehrheiten je nach Sachlage und Fachthema läuft auf eine Politik des Expertentums hinaus. Auf den ersten Blick etwas, das nach viel Vernunft und wenig Parteienhader klingt. Sympathisch, oder? Doch die schwarz-rote Koalition auf Bundesebene zeugt von den zermürbenden Langzeitfolgen. Gerade die LINKE muss sich vergewärtigen, dass ihr ein solcher Regierungsstil als Beliebigkeit ausgelegt werden kann; etwas, das sie tunlichst vermeiden sollte, will sie ihren guten Stand in der Bevölkerung nicht verspielen. Ihr Neuerertum ist nicht daran zu messen, wie flexibel ihre Vordenker sind, sondern was sie den Menschen bringt an sichtbarer Veränderung. Genauer: wie viel Gerechtigkeitsdefizit für die Menschen nachvollziehbar beseitigt wird. Alles andere ist graue Theorie.
In den Debatten über den Erhalt der Demokratie und die notwendige Regierbarkeit des Landes sind sich LINKE und CDU plötzlich ähnlicher, als die fundamental verschiedenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen beider Parteien auf den ersten Blick vermuten lassen. Bei Bodo Ramelow hörte sich das im MDR-Gespräch so an: Eine Minderheitsregierung sei eine »neue politische Qualität, weil Demokraten miteinander mehr reden müssen und zu besseren Ergebnissen kommen«. Und Mike Mohring: »Die Chance an diesem Landtag ist, dass wir hier gemeinsam Ideen für dieses Land entwickeln.«
Dass Ramelow und Mohring im Gespräch zu Ergebnissen kommen, ist schon denkbar. Deshalb mag der Ministerpräsident es »großartig« finden, wenn sich die fünf Parteien bemühen, miteinander gesprächsfähig zu sein. Doch diese Perspektive ist nicht die des Wählers. Auch ob es für die Beteiligten großartig endet, ist offen. Ramelow kündigte an, die »Ideen der demokratischen Opposition vorurteilsfrei (zu) prüfen«. Mohring entgegnete beleidigt, sich nicht mit den »Brotkrumen« der Regierung zu begnügen. »Wir wollen nicht, dass eine Seite prüft, ob die anderen vielleicht mal recht haben könnten und dabei sein könnten.«
Die Frage ist, wie viel Erkennbarkeit der Parteien noch übrig ist, wenn den Befindlichkeiten der Parteienunterhändler irgendwann Genüge getan ist. Erst recht schwer vorstellbar ist, wie systemverändernde Politik aus einer Minderheitenposition heraus funktionieren soll. Zwischen Gestalten und Verwalten aber liegt auch für den Wähler der Unterschied.
Doch ist in Thüringen keine Alternative zur Minderheitsregierung zu sehen. Mathematik schlägt Politik. Keine Regierung unter althergebrachtem politischen Vorzeichen hat eine Mehrheit im Landtag; die AfD macht jede weitere Option zunichte. Ausnahme wäre die auf die Spitze getriebene Große Koalition, die Kooperation zwischen Linkspartei und CDU. Etwas, was das Selbstverständnis nicht nur der Protagonisten, sondern auch ihrer Anhänger in Frage stellen würde. Einziger Ausweg wäre eine Neuwahl. Die hat Ramelow ausgeschlossen. Denn auch sie wäre keine Garantie für ein bequemeres Ergebnis.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!