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Faschismus ante portas
Die Zerstörung der Weimar Republik und unsere haltlose Gegenwart
»Bonn ist nicht Weimar« - über viele Jahrzehnte hinweg galt diese Formel in der alten Bundesrepublik nahezu als unantastbar. Sie hatte zu bezeugen, dass man aus historischen Fehlern gelernt habe. Wenn gegenwärtig jemand wagt, die Republik von Weimar mit der jetzigen Berliner Republik zu vergleichen, schallt ihm oder ihr sofort heftigste Kritik entgegen. Obwohl hiesige Geschichtspolitik ständig und in festgezurrten Ritualen Faschismus und Sozialismus, das NS-Reich und die DDR vergleichen, schlimmer noch: gleichsetzen. Der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann spricht von »Dämonisierung durch Vergleich«.
Ist nun aber Berlin mit Weimar vergleichbar? Ja, sogar auf mehreren Ebenen. Schauen wir zunächst auf den Bereich Wirtschaft, exakter: auf unternehmerische Krisenvermeidungsstrategien. Die wirtschaftliche Lage zu vergleichen ist wenig sinnvoll, denn die bundesdeutsche Ökonomie steht weitaus besser da und ist auch international stärker eingebunden als vor neun Jahrzehnten. Allerdings unterscheidet sich die Entwicklungsrichtung. Ab 1931/32 ging es aus der großen Krise heraus aufwärts. Heute ist zwar die Finanzkrise von 2007/08 einigermaßen bewältigt, doch alles scheint in eine Abwärtsspirale geraten zu sein. Neue Einbrüche stehen bevor. Auf Platz eins der »Spiegel«-Bestsellerliste befand sich wochenlang ein Buch mit dem Titel »Der größte Crash aller Zeiten«. Der Freiburger Ökonom Marc Friedrich meint, 2023 käme ein großer Kollaps.
Kollaps oder nicht - wer kann das schon vorhersagen? Interessant ist, nach den jeweiligen Zukunftskonzepten wirtschaftlicher Eliten zu fragen, also danach, wie sich diese darauf vorbereiteten, auch in erwarteten Krisenzeiten Gewinne zu sichern, Rendite zu maximieren und die kapitalgeprägten Machtverhältnisse zu erhalten. Damals war bereits vor dem großen Aktiensturz an der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929, dem »schwarzen Freitag«, sorgenvoll die Abschwächung der Konjunktur beobachtet worden. 1928 forderte der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) die Politik auf, ein »Großraum-Wirtschaftsgebiet« zu schaffen, gemeint war Europa »von Bordeaux bis Odessa«! Nur so sei etwaigen Wirtschaftskrisen und sozialen Erschütterungen wirksam zu begegnen.
Am 2. Dezember 1929 veröffentlichte der Industriellenverband eine wegweisende Denkschrift, »Aufstieg oder Niedergang?«, ein umfassendes Krisenbewältigungsprogramm, das zugleich auf tiefgreifende Veränderungen im politischen Herrschaftssystem zielte. Dieses sollte die vom Sozialdemokraten Hermann Müller geleitete Koalitionsregierung erfüllen. Wenn sie sich weigerte, sollte sie gestürzt werden - was tatsächlich im März 1930 geschah.
Der RDI, neben der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände die mächtigste Organisation der Großunternehmer, hatte damals eine generelle »Umstellung« der deutschen Wirtschaftspolitik verlangt. Die »Förderung der Kapitalbildung« habe fortan als Ausgangspunkt aller Maßnahmen zu gelten. Kategorisch hieß es: Die deutsche Wirtschaft muss von »allen unwirtschaftlichen Hemmungen befreit« werden. Steuern seien auf das »unumgänglich notwendige Maß zurückzudämmen«. Unternehmen in öffentlicher Hand sollten künftig »grundsätzlich in privatwirtschaftlicher Form« betrieben werden. Reformiert werden müsse das Sozialversicherungswesen, ebenso die Arbeitslosenversicherung. Aufzuheben seien die bestehende Schlichtungsordnung und das, was die Industriellen als »Zwangslohnsystem« bezeichneten. Sie wandten sich gegen Schiedssprüche bei Tarifauseinandersetzungen, Tarife seien nicht länger als verbindlich zu betrachten. Ausgaben der öffentlichen Körperschaften sowie die Steuern sollten einer »wesentlichen Senkung« unterliegen. Hingegen seien Verbrauchssteuern »stärkerer Anspannung« zu unterwerfen.
Dieter Kempf, der gegenwärtige Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, schrieb am 19. Dezember 2019: »Gerade angesichts einer schwächeren Konjunktur muss die Regierung ihre Finanzpolitik in Richtung Wachstum umsteuern. Richtig ist, öffentliche Investitionen zu stärken und die Standortbedingungen für private Investitionen zu verbessern. Dazu gehört auch: Unternehmenssteuern runter, Verwaltung digitalisieren, schneller genehmigen ... Die Bundesregierung sollte Hindernisse in Bund, Ländern und Kommunen beseitigen, die ein Abfließen vorhandener Mittel verhindern ... Die Finanzpolitik sollte den vorhandenen Spielraum nutzen, um sich frühzeitig auf eine härtere Lage einzustellen.«
Welch Übereinstimmung in ökonomischer und sozialpolitischer Dimension! Bekannt ist, dass mit solchen Krisenbewältigungs- und Profiterhaltungsversuchen politischer Kurs nach rechts gefördert wird. Max Horkheimer bestätigte: »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«
Kommen wir zu einer zweiten möglichen Vergleichsebene: Von der Weimarer Republik ging kein Krieg aus. Trotz der Tatsache, dass die von den Siegermächten 1919 auferlegten militärischen Einschränkungen unterlaufen wurden und seit 1925 in den Safes der Reichswehrführung detaillierte Pläne mit dem Titel »WH 808« für den Aufbau eines aus acht Armeen und 102 Divisionen bestehenden Massenheeres von 2,8 bis 3 Millionen Soldaten schlummerten. Unter dem Druck der Militärs war auch mit dem Bau neuer Kriegsschiffe begonnen worden. Und Generäle wie Wilhelm Groener und Kurt von Schleicher gewannen zunehmend an Einfluss auf die Regierungsgeschäfte.
Heute wird getönt, Deutschland müsse in der Welt mehr Verantwortung übernehmen. Als dies vor sechs Jahren der damalige Bundespräsident auf einer Münchner Sicherheitskonferenz äußerte, wurde eine Wende in der bundesdeutschen Außenpolitik eingeleitet. Wenige Jahre zuvor hatte ein anderer Bundespräsident noch zurücktreten müssen, weil er zu offen von der Notwendigkeit militärischer Einsätze sprach, um »unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege«. Heute braucht wegen solcher Worte keiner mehr seinen Posten zu räumen. Im Gegenteil, da verlangt die CDU-Chefin - die diese Woche aus anderen Gründen ihren Rücktritt ankündigte - »robustere« Mandate für deutsche Einsätze an internationalen Brennpunkten.
Anspruch auf Weltgeltung wird täglich erhoben. Gern wäre man auch eine Atommacht, möglichst im Besitz eines Flugzeugträgers, gar eines Weltraumbahnhofes. Zumindest will man weiterhin am Waffenexport verdienen, auf Kosten der Zivilisation, der Natur und des Klimaschutzes. Man tummelt sich auf den neuen Schlachtfeldern der Wirtschaftskriege und gibt vor, im westlichen Bündnis hohe Werte zu verteidigen. Sorglos wird die Frage verdrängt, was passieren würde, wenn der verbündeten US-Administration einfallen könnte, ihre absolute Übermacht an Kriegsmaterial für den Fall einzusetzen, dass ihre Ziele nicht länger allein mit verhängten Sanktionen durchsetzbar sind.
Eine dritte Ebene vergleichbarer Erscheinungen sehe ich in der Parteienlandschaft. In den letzten Jahren der Weimarer Republik rückten alle bürgerlichen Parteien - zumeist nach Führungswechseln - nach rechts. Dies vollzog sich schrittweise und keineswegs geradlinig. Es gab auch retardierende Momente, denn unter den ökonomischen, militärischen und politischen Eliten wurde intensiv und ernsthaft gestritten. Dabei ging es sowohl um die Frage, bis zu welchen Schmerzgrenzen durch Notverordnungen Löhne gekürzt und »gespart« werden könne, wie auch um Varianten und Modalitäten weiterer deutscher Machtentfaltung. Man stritt sich jeweils um die eigenen Vorteile.
Wer denkt da nicht sofort an den Riss, der heute durch die CDU geht, wer nicht an jene taktischen Überlegungen auch in einer anderen »Partei der Mitte«, wie Machtpositionen (wieder) zu gewinnen sind, selbst wenn dies nur mit Hilfe der AfD möglich ist? Offiziell wird kundgetan, sich nicht mit jener einzulassen. Große Skepsis ist geboten.
Dass sich in Weimarer Zeiten Nazis und Konservative nach dem Scheitern ihres »Harzburger Front« genannten Bündnisses gegenseitig beschimpften, war Schein. Die am 30. Januar 1933 gebildete »Regierung der nationalen Konzentration« bestand aus drei Nazis und acht Konservativen. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Zentrumspartei ermöglichten mit ihrer Zustimmung am 24. März 1933 das Ermächtigungsgesetz Hitlers. Ein Zusammengehen mit der AfD wird CDU und FDP heute schwererfallen als den bürgerlichen Parteien in der Weimarer Republik, denn noch existiert in der Gesellschaft ein zwar bröckelnder, ständig attackierter, aber immer noch ernsthaft zu beachtender antinazistischer Konsens.
Ein weiterer Aspekt des Parteienwesens lädt zu Vergleichen ein: Damals wie auch heute spielten Argumente eine Rolle, die sich generell gegen das Parteienwesen richten. Die NSDAP wollte als »Bewegung« verstanden werden und verkündete, Parteien stellen ein Übel dar, seien »undeutsch« und »jüdischen Ursprungs«. Aversionen dieser Art fanden Resonanz und Bestätigung, besaßen Alltagsattraktivität. Die real existierenden Schwächen des Parteienwesens boten sowohl nationalistischem als auch antidemokratisch-autoritärem Denken viel Spielraum. Seit nunmehr sechs Jahren wettert die AfD gegen »Altparteien«, »Systemparteien«, »Kartellparteien«. Scharen bisheriger Nichtwähler danken es ihr und machten sie zu der bisher erfolgreichsten Partei am rechten Rand der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Sollte es in Thüringen zu Neuwahlen kommen, ist sicher wieder ein Zuwachs für die AfD zu erwarten.
Prof. Manfred Weißbecker, Faschismusforscher, lebt und arbeitet in Jena; die mit ihm als Referenten im »nd« für den 15.2. angekündigte Tagung der Thüringer Rosa-Luxemburg-Stiftung »Das autoritäre und faschistische Echo der Vergangenheit« ist wegen der an diesem Tag in Erfurt stattfindenden Großdemonstration auf den 14.3. verschoben.
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