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Neue Zeiten im Billiglohnland
In der ostdeutschen Ernährungsindustrie kommt es immer häufiger zu Streiks
Normalerweise läuft die Produktion im Frosta-Tiefkühlwerk in der sächsischen Kleinstadt Lommatzsch so ab: Es gibt da die »Schlauchbeutellinie« und die »Schachtellinie«. Das sind Fließbänder, auf denen kleine Kartons stehen und dann beispielsweise mit Gemüse und Butter befüllt werden. Da das Werk modern ist, läuft großteils alles über Maschinen – diese müssen aber besetzt sein. »Maschinisten« kontrollieren die Befüllung und Weiterverarbeitung, »Handwerker« warten wiederum die Maschinen. Einige der rund 170 Mitarbeiter sitzen auf Hockern, gelegentlich wird aber auch gestanden. Die Arbeit geht auf Beine und Rücken, trotz der versierten Technik ist es anstrengend. Heute, Mitte Februar, sind die Maschinen jedoch nicht besetzt, die Fließbänder stehen still. Ein Großteil der Beschäftigten hat sich auf einem Hof neben dem Werkstor versammelt. Schon zum zweiten Mal seit Jahresbeginn wird bei Frosta gestreikt. Der Hauptgrund: Für die gleiche Tätigkeit bekommen die Kollegen am westdeutschen Schwesterstandort Bremerhaven monatlich 764 Euro mehr. 30 Jahre nach der Wende. Die unterste Lohngruppe verdient zudem teilweise beim Einstiegsgehalt nicht mal zwölf Euro pro Stunde. Beides will sich die Belegschaft nicht mehr bieten lassen.
»Wir schreiben hier Geschichte«, ruft Olaf Klenke, Verhandlungsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), der Menge entgegen. Rund 80 Streikende, fast alle tragen gelbe Westen, haben sich an diesem sonnigen Wintertag vor ihm und dem Gewerkschaftssekretär Thomas Lißner versammelt. Die Kollegen rauchen, trinken Kaffee, essen Suppe und Brötchen. Die Spätschicht wird sich gleich noch dem Streik anschließen, heißt es. Aus Boxen läuft Punkrock von »Feine Sahne Fischfilet«, man scherzt untereinander. »Wir dürfen keine Angst vor der eigenen Courage haben«, führt Klenke aus. Was er meint: Seit etwa einem Jahr findet im bisher eher gewerkschaftsskeptischen Ostdeutschland, im Niedriglohnland Sachsen und dann auch noch im traditionellen Niedriglohnsektor der Ernährungsindustrie ein kleiner gewerkschaftlicher Aufbruch statt: Die Menschen begehren auf und organisieren sich. Mitte Januar hatten die Frosta-Kollegen das erste Mal einen Warnstreik durchgeführt und für zwei Stunden ihre Arbeit niedergelegt. Es war der erste Streik in der sächsischen Ernährungsindustrie seit der Wende – und laut einigen Medienberichten auch der erste in dem kleinen 5500-Einwohnerort seit 100 Jahren.
Vorreiter in der Region waren dabei die Mitarbeiter von Teigwaren Riesa. Die Nudelfabrik in der sächsischen Kleinstadt liegt nur wenige Fahrminuten entfernt. In einem beeindruckenden Tempo und Ausmaß erkämpften die rund 150 Mitarbeiter seit 2018 einen Betriebsrat, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und einen Haustarifvertrag. Trotz Gegenwehr der Eigentümerfamilie Freidler, die noch bis heute anhält. Das von dem Arbeitskampf ausgehende Signal war so groß, dass Teigwaren-Betriebsräte sogar auf der »Unteilbar«-Demonstration in Dresden vom vergangenen Jahr vor 35 000 Demonstranten sprachen. »Wenn die Nudel-Kollegen das können, können wir das auch«, ruft ein Kollege auf der Frosta-Streikkundgebung.
Die Unzufriedenheit ist in Lommatzsch enorm. »Uns wurde oft versprochen, dass sich die Situation bessert und wir mehr Geld bekommen, doch nichts davon ist eingetreten«, kritisieren Thorsten und Kathrin, beide seit vielen Jahren im Betrieb. Viele gute Leute seien mittlerweile gegangen, mit der schlechten Entlohnung würde es zudem schwer fallen, geeignete Lehrlinge zu finden. »Uns wird zur Begründung der Lohnunterschiede gesagt, dass die Mieten und Lebenshaltungskosten bei den westdeutschen Nachbarbetrieben teurer seien. Aber das stimmt nicht«, sagt Thorsten. Die Zeiten seien vorbei, wo man sich einschüchtern lasse, fügt Kathrin hinzu. Die West-Kollegen aus Bremerhaven haben sich derweil mit einer Unterschriftenliste solidarisiert – über 40 Mitarbeiter unterzeichneten.
Nach eigenen Angaben hat die Frosta-AG für das vergangene Geschäftsjahr einen voraussichtlichen Konzernjahresüberschuss von zwölf Millionen Euro erwirtschaftet. Doch was kommt davon bei den Mitarbeitern an? »Die Lebenshaltungskosten steigen, unser Geld aber nicht«, beschwert sich Udo, 50 Jahre alt und ebenfalls lange schon im Betrieb. Permanent müsse er rechnen, es bleibe kaum etwas übrig. »Bin froh, dass ich mit der Familie grade noch in den Urlaub fahren kann.« Udo nippt an seinem Kaffee, spricht ungehalten. »Ein paar Kilometer weiter verdienen sie über 700 Euro mehr für die gleichen Tätigkeiten, da hat sich einfach Frust aufgebaut.« Am Anfang habe es bei Teilen der Belegschaft bezüglich eines Streiks noch Skepsis gegeben, aber die habe sich mittlerweile gelegt. Ausschlaggebend sei hier laut anderen Mitarbeitern auch eine Betriebsversammlung vom vergangenen Sommer gewesen. Äußerungen der Leitungsebene hätten die Stimmung weiter verschärft, viele Kollegen seien danach in die NGG eingetreten. Gekommen sei von oben bis heute nichts. »Das ist alles Zeitspiel«, sagt Udo.
Die erste Tarifverhandlung der sächsischen Ernährungsindustrie fand Mitte Dezember statt, ging jedoch ohne Ergebnis zu Ende. Die zweite Verhandlung sollte dann Ende Januar durchgeführt werden, wurde aber von der Arbeitgeberseite abgesagt. Ein nächster Termin ist jetzt für Anfang März geplant. Zumindest den Streikenden ist klar, dass es hier nicht nur um die üblichen zwei bis drei Prozent Lohnerhöhung geht, die von der Inflation wieder aufgefressen werden. Es geht um Gleichberechtigung und den Versuch, Altersarmut zu verhindern: Bis 2025 sollen die Renten in Ost und West angeglichen werden. Doch die Löhne, die für die Berechnung als Grundlage dienen, werden derzeit im Osten aufgrund der Unterschiede noch künstlich hochgerechnet. Damit soll in fünf Jahren Schluss sein. Was bedeutet, dass sich bestehende Lohnunterschiede dann auch in heftigen Rentenunterschieden niederschlagen würden, real also die Renten im Osten gekürzt werden. »Wenn bis 2025 die Löhne nicht angeglichen wurden, haben wir nicht nur Arbeitnehmer zweiter Klasse, sondern auch Rentner zweiter Klasse«, sagt Klenke. Für ihn gehe es bei der Forderung nach einem Fahrplan für eine Angleichung auch darum, Würde herzustellen. »Die Ignoranz und Weigerung der Arbeitgeberseite zu verhandeln, macht viele Beschäftigte wütend.«
Aus dem gemeinsamen Frust erwächst gegenseitige Unterstützung. Das Tarifgebiet der Ernährungsindustrie Sachsen umfasst insgesamt über 1300 Menschen in einem Dutzend Betrieben. Dazu gehören Unternehmen wie Bautz’ner Senf, Jägermeister in Kamenz, die Lausitzer Früchteverarbeitung in Sohland oder die Sonnländer Getränke in Rötha, eine Edeka-Tochter. Auf der Frosta-Streikkundgebung sind so auch Kollegen von Sonnländer gekommen. »Wir feiern 30 Jahre Wiedervereinigung, aber die Lohnmauer steht doch noch«, sagt Björn, seit 18 Jahren im Betrieb. Ihre Arbeit sei hart, berichtet er. Aufgrund des durchgehenden Schichtsystems und der wenigen Ruhetage schlafe man schlecht und betrete dann kaputt den Betrieb. »Und mit dem Geld, was wir dann bekommen, schaffe ich es kaum, mit meiner Frau mal Essen zu gehen.« Er hätte vergangenes Jahr noch nicht gedacht, dass er heute mal hier stehen würde.
Der Mut steckt an. Die Frosta-Kollegen setzen sich nach ihrem Warnstreik in ihre Autos und fahren mit einem Korso in die Nachbarstadt Riesa. Dort ist jetzt die Belegschaft des Öl-Werks Cargill dran. Der US-amerikanische Konzern hatte die lokalen Anlagen 1999 übernommen, produziert werden hier unter anderem Rapsöl, Sonnenblumenöl und Rapsschrot. Als der Korso ankommt, haben sich bereits etwa 50 Cargill-Kollegen in ihren gelben Westen vor der Toreinfahrt versammelt. Rund die Hälfte der Belegschaft. Ihr Problem ist das gleiche wie in Lommatzsch: Im Vergleich zum Cargill-Werk im niedersächsischen Salzgitter beträgt auch hier der Lohnunterschied 754 Euro. Mit den solidarischen Kollegen verengen die Mitarbeiter die Zufahrt aufs Gelände, ein LKW-Fahrer muss wenden.
Einer der Cargill-Streikenden ist Marcel. »Gleiche Arbeit – gleicher Lohn – alles anderer purer Hohn« steht auf einem Schild, das er in seiner Hand trägt. Begleitet wird er von seiner Tochter, die lächelnd eine Fahne der NGG vor sich hält. Marcel war zur Wende neun Jahre alt, heute arbeitet er als Betriebselektriker im Werk. »Bei jüngeren Kollegen ist es selbstverständlich, dass man sich für seine Interessen einsetzen muss«, erklärt der Mitarbeiter und rückt sein rotes Basecap grade. »Und bei den meisten hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass es ohne Gewerkschaft nicht mehr geht.« Marcel beschwert sich, dass die Politik den Status von Sachsen als Billiglohnland zementiert habe, aber damit sei nun Schluss. »Die Stimmung geht immer mehr in den Keller, jetzt ist der richtige Zeitpunkt zum Streiken.«
Es sind verschiedene Faktoren, die derzeit in der ostdeutschen Ernährungsindustrie zusammenkommen. Die gute Konjunktur und der damit einhergehende Fachkräftemangel kommen der Verhandlungsposition der Beschäftigten zu Gute. Auch ein Generationswechsel in den Betrieben hat offenbar zu mehr Selbstbewusstsein und einem Umdenken bei Konflikten geführt. Nicht zuletzt machen aber auch die zahlreichen Jubiläen und Erinnerungsveranstaltungen zu 30 Jahren Wende die eigene prekäre Situation bewusst – allen Reden von blühenden Landschaften zum Trotz. Die Proteste gehen mittlerweile über Sachsen hinaus. Beschäftigte des Unternehmens Deutsche Tiernahrung Cremer im brandenburgischen Herzberg an der Elster legten Mitte Februar ebenso ihre Arbeit nieder.
Spannend wird der 6. März. Vom Ausgang des nächsten Verhandlungstermins dürfte abhängen, ob die Streiks sich ausweiten und verlängern, die Streikfeuer vielleicht ja sogar zu einem Flächenbrand werden.
»Wenn es keine Einigung gibt, wird es ernst«, bekräftigt Verhandlungsführer Klenke und stimmt die vor den Cargill-Toren versammelten Kollegen auf eine längere Auseinandersetzung ein. In der Menge hat man sich darauf sowieso schon eingestellt. »Wenn es sein muss, dann werden wir natürlich länger streiken«, sagt der Frosta-Mitarbeiter Udo. »Auf was sollen wir noch warten, wir werden ja auch nicht jünger«, murmelt er und lächelt. Die Kaffeebecher werden ausgetrunken, noch ein paar gemeinsame Fotos gemacht, Lieder angestimmt. Und bevor nach zwei Stunden in Riesa alle weiterziehen, spricht NGG-Sekretär Lißner ein letztes Mal in das Megafon: »Ich bin stolz, dass wir wieder eine Arbeiterbewegung sind!« Die Kollegen klatschen. Der Arbeitgeberverband äußerte sich nicht zum Streik.
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