»Wir werden uns in den Armen halten«

Überlastete Ärzte, notversorgte Bevölkerung - doch das Coronavirus scheint Wuhan nicht aus der Ruhe zu bringen

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit in der Nacht zum Freitag ein zweiter Evakuierungsflug aus Wuhan abhob, ist Emmanuel Geebelen der letzte Schweizer in der Stadt. In der Elf-Millionen-Metropole lebt der 42-Jährige in einem 24-stöckigen Apartmentturm. Doch wenn er morgens das Fenster öffnet, dann schallen weder Autolärm noch Stimmengewirr in die Wohnung. Die einzigen Menschen, die der Genfer vereinzelt ausmachen kann, sind Reinigungskräfte in Ganzkörperschutzanzügen, die Desinfektionsmittel versprühen. »Man sieht derzeit China, wie man es noch nie gesehen hat«, sagt Geebelen am Telefon und lacht ausgelassen. Dabei befindet sich seine zweite Wahlheimat derzeit im Ausnahmezustand.

In Wuhan, dem Epizentrum des Coronavirus, und der umliegenden Provinz Hubei haben sich laut Angaben der chinesischen Gesundheitskommission über 77 000 Menschen angesteckt. 2592 Personen sind an dem Erreger bislang verstorben, 95 Prozent davon in Hubei. Über Wochen hinweg wurden Horrorvideos über Leichensäcke in überfüllten Krankenhäusern in Wuhan, abgewiesene Patienten und ausgeräumte Supermarktregale weltweit in den Abendnachrichten der Fernsehstationen ausgestrahlt. Für viele mag es angesichts der wohl schwerwiegendsten Gesundheitskrise in der Geschichte der Volksrepublik China absurd erscheinen, wie jemand die Chance zum Heimflug in die Schweiz ablehnen würde.

»China ist unser Zuhause, für uns gibt es keinen Grund fortzuziehen«, sagt Geebelein, der mit seiner chinesischen Frau Connie zwei Kleinkinder hat. Geradezu stoisch analysiert er die Situation der jungen Familie: »Das Virus wird uns nicht erreichen. Ich bin der einzige von uns, der das Haus verlassen hat, um einzukaufen - natürlich mit den nötigen Vorsichtsmaßnahmen.«. Genau sechs Mal sei der gelernte Uhrenmacher in 23 Tagen vor die Tür gegangen. Doch mittlerweile ist auch das nicht mehr möglich, die Stadtregierung hat eine vollständige Ausgehsperre verhängt. Seither organisieren sich die Anwohner in Gruppenchats, um Vorratskäufe zu verabreden. Fahrer mit Regierungslizenzen bringen die Lebensmittel 48 Stunden später zu den verschlossenen Toren der Wohnsiedlung.

»Besorgt sind wir nicht, aber der Alltag ist langweilig«, sagt Geebelein, der nach wie vor eine strikte Alltagsroutine einhält: Um 5.30 Uhr wacht der Westschweizer auf, bevor er sich ans Frühstückmachen für die Kinder macht. Anschließend werden online die Nachrichten gecheckt: Wie viele neue Infizierte wurden von den Behörden bestätigt? Und: Haben sich die Quarantänebeschränkungen verändert? Schwer bis unmöglich vorstellbar, dass ähnliche Maßnahmen auch in Deutschland getroffen werden könnten. Und noch schwerer vorzustellen, dass diese auch befolgt würden.

Ende Januar hat die Stadtregierung Wuhans erstmals den Flug-, Zug- und Busverkehr aus der Stadt eingestellt. Wenig später wurden auch die Zufallsstraßen blockiert. Dann legten die Behörden zusätzlich die U-Bahnen und Busse still, schlussendlich wurden auch private Autofahrten verboten. »Die Chinesen sind ruhig und stoisch. Die haben einen Gemeinschaftssinn, die Gesellschaft kommt vor dem Individuum«, sagt Geebelein.

Epidemiologen wie David Heymann haben großen Respekt vor der Bevölkerung in China, die derzeit große Opfer in Kauf nimmt. Den Briten beschäftigt derzeit vor allem, ob das neuartige Coronavirus eingedämmt werden kann, wie es etwa bei SARS der Fall war, oder ob Sars-CoV-2 ähnlich HIV endemisch wird. »Das ist die essenzielle Frage«, sagt Heymann, ehemaliger Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten bei der Weltgesundheitsorganisation. »Zumindest außerhalb Chinas sollten wir nach wie vor an dem Ziel festhalten, das Virus vollständig zu stoppen. In China hingegen brauchen wir noch mehr Informationen, was wirklich machbar ist.«

Grund für Panik, wie es die mediale Berichterstattung oftmals nahelegt, sieht Experte Heymann nicht. »Es ist aber sehr wohl richtig, dass man zu Beginn eines Virusausbruchs besorgt ist. Schließlich handelt es sich um einen neuen Organismus, und unsere Maßnahmen während der ersten Monate bestimmen maßgeblich das schlussendliche Potenzial des Erregers«, sagt Heymann, der derzeit als Professor für Epidemiologie an der Londoner Hygiene- und Tropenmedizinhochschule unterrichtet: »Trotz allem ist es eine schwerwiegende Infektion - weil niemand von uns dagegen immun ist.«

Auch wirtschaftlich wird das Virus China schwer treffen. In einer ersten Schätzung geht die US-Bank JPMorgan davon aus, dass das prognostizierte Wachstum der Volksrepublik im ersten Jahresquartal um über sechs Prozentpunkte auf nur einen Prozentpunkt schrumpfen werde. Laut dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank von Februar sei »zumindest kurzfristig mit erheblichen Einbußen für die chinesische Wirtschaft zu rechnen, die auf andere Volkswirtschaften ausstrahlen könnten«. Weiter heißt es: »Die Wachstumseinbußen könnten spürbar höher ausfallen als während der SARS-Epidemie von 2002/2003.« Damals konnten die Einbußen noch im Kalenderjahr 2003 aufgrund eines massiven Konjunkturprogramms wieder ausgeglichen werden. »2003 hatte die Regierung noch sehr viel mehr Geld und der Markt einen ungleich stärkeren Bedarf«, sagt EU-Handelskammerpräsident Jörg Wuttke. »Heute hat China zwar die beste Infrastruktur der Welt, jedoch einen riesigen Schuldenberg. Da jetzt wieder einen solchen Effekt herzustellen wie bei SARS, ist de facto unmöglich.« Zudem macht mittlerweile der Dienstleistungssektor in China über 50 Prozent der Volkswirtschaft aus. Im Gegensatz zum produzierenden Gewerbe, kann der Konsum nicht mehr aufgeholt werden.

Die Konsumflaute bekommen zuallererst die Kleinstbetriebe im Land zu spüren. Wie ernst es um diese steht, belegt nun eine Studie der zwei namhaftesten Universitäten der Hauptstadt. Wissenschaftler der Tsinghua- und Peking-Universität haben Anfang Februar eine Umfrage unter 1435 kleinen Betrieben durchgeführt, von denen ein Drittel finanzielle Rücklagen für lediglich einen Arbeitsmonat oder weniger zur Verfügung hat. Kleine und mittelständische Betriebe generieren rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 80 Prozent der Arbeitsplätze.

Zu spüren bekommt die Krise auch die chinesisch-schweizerische Familie Geebelen in Wuhan. Während sich Emmanuel um die Kinder kümmert, stammt das einzige Einkommen der Familie von seiner Frau Connie, die als Leiterin eines Kindergartens arbeitet. Seit dem Virusausbruch wurden die Kitas jedoch als erstes geschlossen, wahrscheinlich werden sie auch als letztes wieder eröffnet. Connie Geebelens Chef hat bereits darum gebeten, das Gehalt zu kürzen, möglicherweise ganz zu streichen. »Sobald die Quarantänebestimmungen aufgehoben werden, geht es darum, innerhalb Chinas umzuziehen und eine neue Existenz zu gründen«, sagt der Schweizer. »Bis Mai können wir ausharren. Aber wenn es bis Juni oder Juli andauert, dann wird es finanziell ernst.«

Am prekärsten ist die derzeitige Lage jedoch für die Mediziner Wuhans. »Jeden Morgen gehe ich mit meinen Kollegen in die Notaufnahme, um neue Patienten zu behandeln«, sagt die Ärztin Wai Jie, die im »Renmin Krankenhaus« der Wuhan Universität die Notaufnahme leitet. Vor über 60 Jahren wurde die Medizinerin in Wuhan geboren. Nun steht sie an vorderster Front, um die wohl schwerwiegendste der Krise der Stadt zu bewältigen.

Über 1700 Ärzte und Pfleger haben sich bereits an dem Virus angesteckt, mindestens sechs sind verstorben. Mit dem 33-jährigen Li Wenliang traf es auch den sogenannten Whistleblower des Coronavirus, der erstmals vor dessen Gesundheitsrisiken warnte, jedoch von den Behörden zum Schweigen gebracht wurde. Dass auch junge Doktoren von dem Lungenerreger nicht verschont wurden, ist ein weiterer Beleg ihrer massiven Arbeitslast, die Körper und Immunabwehr schwächt. In einem Interview mit dem chinesischen Magazin »Caixin« offenbarte ein Arzt aus Wuhan, Windeln zu tragen, weil in den ersten Wochen des Virusausbruchs keine Zeit mehr für Toilettengänge übrig war.

»Während der Frühphase des Ausbruchs war unser Wissen über das Virus noch nicht so umfassend, deshalb haben wir nur herkömmlichen Schutz getragen. Je mehr wir über den Ernst der Lage wussten, desto stärker stieg auch die Angst«, sagt Ärztin Wai, die nach ihrem Medizinstudium mehrmals für Forschungsprojekte im europäischen Ausland tätig war. »Aber die Arbeit zu verweigern, kommt für uns nicht in Frage. Wir versuchen uns auf alle erdenklichen Arten zu schützen«. Dazu gehören neben Masken und Handschuhen auch Schutzanzüge. »Natürlich sind wir emotional immer noch ängstlich, aber letztendlich geht es um die Patienten«, sagt sie.

Mittlerweile würde sich die Lage vor Ort allmählich verbessern, meint Ärztin Wai Jie. Die Notaufnahme sei nicht mehr so stark überfüllt, zudem würden zunehmend geheilte Patienten die Krankenhäuser verlassen. Was sie, die vor kurzem Großmutter geworden ist, nach der Virusepidemie plant? »Wenn die Krise vorüber ist, werden wir uns in den Armen halten und viele Tränen vergießen«, sagt Wai Jie. »Danach werden wir in den Himmel schauen und ewig lachen.«

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