Auf Klassenfahrt
Mit den Eisernen durch die Bundesliga: Zu jedem Heimspiel schicken wir einen anderen Autor in die Alte Försterei - gegen den VfL Wolfsburg: Christin Odoj
Mit der Musik im Fußballstadion ist es wie mit dem unangenehmen Onkel auf Geburtstagsfeiern. Niemand möchte mit ihm zu tun haben, aber er ist nun mal da. Die unvermeidbaren Klassiker jeder Playlist: Hermes Houseband, Dr. Alban, Kerstin Ott. Wobei sich die Huhn-Ei-Frage auch hier stellt. Drückt der DJ unhinterfragt seinen Musikgeschmack durch oder gibt es tatsächlich Menschen, die diese Lieder hören möchten?
Sicherlich ist es schwer, den richtigen Ton zu treffen. Stören darf die Musik nicht, immerhin muss vor Spielbeginn die Aufstellung diskutiert, der neueste RB-Leipzig-Rant losgelassen und ausgiebig darüber gelacht werden, was Karl-Heinz Rummenigge schon wieder zur Fußballkultur gesagt hat. Zu gut darf die Musik auch nicht sein, sonst unterhalten sich alle darüber, wie gut die Musik ist und keiner hat mehr Zeit für den Fußballklatsch.
Wo diese Balance - zumindest in der 1. Bundesliga - am besten funktioniert, ist die Alte Försterei. Am Sonntag gegen den VfL Wolfsburg dröhnen beim Betreten des Stadions The Editors aus den Boxen, noch anderthalb Stunden bis zum Anpfiff. Danach No Doubt, The Vaccines, Weezer. Solide Indie-Disko wie man sie - ist man in einer bestimmten Zeit groß geworden - in Berlin lange vermisst hat. Maik aus Hellersdorf kennt jeden Song und fährt im Sommer auf Festivals, die in Orten stattfinden, bei denen man auf Google-Maps lange ranzoomen muss, bis sie angezeigt werden. Im Stadion steht er auf der Waldseite, na gut, das war klar. Nur bei Pauli sei die Musik vielleicht noch ähnlich gut, sagt er.
Für die Musik in der Alten Försterei ist seit Jahren »Wumme« verantwortlich, seine Playlist kann man beim Streamingdienst Spotify anhören, er twittert jeden Song, den er spielt, eine Full-Service-Stadionmusikagentur. Als die Musik aus den Boxen verstummt, geht sie fast nahtlos in die Fangesänge über. Der Capo ruft ins Mikrofon: »Damit heute gar keine Zweite-Liga-Stimmung aufkommt.« Es folgen die Klassiker: »Wir singen rot, wir singen weiß, wir singen rot-weiß FCU«, »Wir sind Unioner (inzwischen ironisiert: «Wir sind Corona»), wir sind die Kranken, wir durchbrechen alle Schranken ...« und, was auf der Waldseite vom Nebenmann kategorisch abgelehnt wird, »Ein Schuss, ein Tor, Union, ei jei jei jei«. Das sei ein »scheiß Dynamo-Song«, den singe er nicht mit. Genauso wie alles andere mit »schalala« und »na na na«. Er singe »nur das mit Inhalt.« Einen Traditionalisten wie ihn erkennt man schon an der Kleidung: schwarzer Wollmantel, kariertes Hemd, Schiebermütze. Eine ganz angenehme Abwechslung unter den hier üblichen Trainingshose-Gürteltasche-Uniformen.
Gegen Ende der ersten Hälfte wird es hektisch. Auf die bekannten Spruchbänder gegen Dietmar Hopp und den DFB folgen Schmähgesänge: »Ihr macht unseren Sport kaputt, ihr Wichser«. Nicht alle machen mit, von der Gegengerade kommt ein »aufhören, aufhören« herüber. Nachdem Stadionsprecher Christian Arbeit den drohenden Spielabbruch verkündet und auch Kapitän Christopher Trimmel mit dem Capo spricht, werden die Spruchtapeten und der Doppelhalter mit Fadenkreuz-Symbol eingerollt.
Die nicht in der Ultraszene involvierte Waldseite rätselt: Werden sie es wagen, das Transparent noch mal hochzuhalten? Die Meinungen changieren zwischen »Denen ist es egal, es geht um die Botschaft« bis zu »Nein, die verscherzen es sich nicht mit dem Verein«. Am Ende geht das Spiel regulär zu Ende und die Debatte erst so richtig los. Am Montag teilt die Polizei mit, dass gegen Unbekannt ermittelt wird. Der Grund: Verdacht auf den Tatbestand der Bedrohung.
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