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- Die Verantwortung der Linken
Niemals herabblicken
Die Linke wird ihrer Verantwortung für die Interessen sozial deklassierter Schichten nicht ausreichend gerecht
Die Linkspartei verliert massiv an gesellschaftlichem Einfluss. Und dass die Umfrageergebnisse sich nach einigen Wahlniederlagen auf einem niedrigen Niveau einpendeln, ist kein Grund zur Entwarnung. In Frankreich ist neben Mitterrands PS auch die einst große und stolze Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) verschwunden. Und in Italien ist von der legendaren Kommunistischen Partei (PCI) nichts mehr übrig geblieben. Das zeigt, dass die europäische Linke insgesamt in einem beklagenswerten Zustand ist.
Nun kann man das alles auf die äußeren Umstande, die Medien, die Flüchtlingsdebatte und so weiter schieben. Allein, diese Schuldzuweisung wird die Situation nicht ändern. Wenn wir nicht schauen, was wir als Linke falsch gemacht haben, dann werden wir scheitern. Und das in einer historischen Situation, in der ein neuer Faschismus real vor der Tür steht.
Jan Korte, 43 Jahre alt, ist Bundestagsabgeordnete der Linken. Seine politische Laufbahn begann er bei den Grünen und verließ diese wegen ihrer Zustimmung zum Jugoslawien-Krieg der Nato 1999. In Osnabrück geboren, lebt Korte inzwischen in Sachsen-Anhalt, seinen Wahlkreis hat er in Anhalt/Salzlandkreis. Zuvor stellvertretender Fraktionsvorsitzender, ist er seit 2017 erster Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion im Bundestag. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Innenpolitik, Bürgerrechte und Datenschutz sowie die Geschichtspolitik - hier setzte er sich wiederholt für die Anerkennung von NS-Opfergruppen, darunter für die Entschädigung sowjetischer Zwangsarbeiter ein.
Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus seinem jüngst veröffentlichten Buch »Die Verantwortung der Linken«.
Jan Korte: Die Verantwortung der Linken. Verbrecher-Verlag, 140 S., br., 16 €.
Tatsächlich ist die Linke in Teilen nicht einmal in der Lage, eine tiefgreifende Analyse dessen zu liefern, was eigentlich in den letzten Jahren passiert ist. Stattdessen halluziniert man sich dort oftmals Bewegungen herbei und moralisiert durch die Gegend. Einige kommen nicht mal mehr auf die Idee, dass die ganze Scheiße auch etwas mit politischer Ökonomie zu tun haben könnte. Und ebenso können wir bei vielen Linken eine Bequemlichkeit beobachten, die dazu führt, dass diese sich über die Frage, was das alles mit einem selber, mit den Linken, zu tun haben könnte, keine Gedanken mehr machen möchte.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass auch ich eine ganze Zeit lang die Verheerungen des Neoliberalismus zu wenig im Blick hatte. Als ich Ende der 90er Jahre meine parteipolitische Laufbahn (damals noch bei den Grünen) als Kommunalpolitiker begann, dachte auch ich, hier und dort wären private Initiativen vielleicht besser und effektiver als staatliche Institutionen. Hätte die Stadtverwaltung im Bereich der Kultur nicht Teile ausgliedern und also ihrer Obhut entziehen sollen? Hätte das nicht sogar die Kunst freier gemacht?
Ich war selbst von der neoliberalen Propaganda angesteckt und habe den Abbau der Demokratie, der mit solchen Positionen zwingend einhergeht, zu wenig gesehen. Inzwischen habe ich meine Meinung geändert.
Ein wesentlicher Grund für den Niedergang der Linken in der Bundesrepublik ist die fehlende Empathie für die dort »unten«.
Ich habe 2018 einen Artikel mit der Überschrift »Niemals herabblicken« auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht. Es gab viel Zuspruch, doch auch viel Ablehnung. Was gut war, weil es eine Debatte auslöste. Erschreckend war, dass ein Teil der Linken sich den sozialen Fragen überhaupt nicht mehr nähern wollte. Meine Thesen stießen auf massive Ablehnung, ja, man warf mir vor, ich würde einem rechten Zeitgeist hinterherrennen.
Doch egal, ob es uns Linken gefällt oder nicht: Viele Menschen sind von den Linken bitter enttäuscht, sie fühlten sich nicht mehr angesprochen, nicht respektiert, nicht gesehen und nicht gehört. Und das hat etwas mit Schwerpunktverschiebungen in der Geschichte der Linken zu tun. Wenn auch sehr verkürzt, so hat Francis Fukuyama in seiner aktuellen Untersuchung zum Thema »Identität« angenehm unaufgeregt herausgearbeitet, wie sich die Linke verändert hat und wo Ursachen für ihre Probleme liegen können. Daher sei er ausführlich zitiert:
»Im 20. Jahrhundert hatte sich die Politik an einem Linksrechts-Spektrum orientiert, das durch Wirtschaftsthemen definiert wurde, wobei die Linke mehr Gleichheit und die Rechte größere Freiheit verlangte. Die linke Politik konzentrierte sich auf Arbeiter, Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien, die sich um bessere gesellschaftliche Schutzmechanismen und wirtschaftliche Umverteilung bemühten. Die Rechte interessierte sich hauptsächlich dafür, die Verwaltung zu reduzieren und den Privatsektor auszubauen. Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts scheint dieses Spektrum in vielen Ländern von einem durch Identität definierten Angebot verdrängt zu werden. Die Linke richtet ihr Augenmerk nicht mehr primär darauf, weitestmögliche ökonomische Gleichheit herzustellen. Stattdessen geht es ihr darum, die Interessen einer Vielfalt von benachteiligten Gruppen zu unterstützen, wie etwa von Schwarzen, Einwanderern, Frauen, Hispanics, der LGBT-Community und Flüchtlingen. Unterdessen liegt der Rechten vor allem der Patriotismus am Herzen, der Schutz der traditionellen nationalen Identität, die häufig explizit mit Rasse, Ethnizität oder Religion verknüpft wird.«
An dieser Beobachtung ist einiges dran. Und dies auszusprechen, schmälert in keiner Weise den Wert all der Kämpfe und des bewundernswerten Engagements so vieler Aktivistinnen und Aktivisten, denen ich mich in vielerlei Hinsicht zugehörig fühle. Trotzdem kommen wir nicht darum herum, über diese Fragen nachzudenken und zu beginnen, darüber progressiv zu streiten - und zwar ohne die elendigen Debatten über Haupt- und Nebenwidersprüche, ohne Unterstellungen, man bediene einen rechten Zeitgeist oder andersherum, man schlürfe den ganzen Tag nur Latte macchiato in teuren Cafés und trage keinen Funken Solidarität in sich. Wer kein Fleisch isst, keinen Fußball mag oder seine Kinder nicht geschlechtsspezifisch anzieht, hat dasselbe Recht auf Respekt, wie die alleinerziehende Kassiererin, die mit dem Billigflieger in den Pauschalurlaub reist. Es darf nicht darum gehen, überkommene gesellschaftliche Konventionen, die Menschen ausschließen, durch neue - ebenso ausschließende - zu ersetzen.
Lasst es uns vorurteilsfrei feststellen: In der Phase des völlig enthemmten Kapitalismus, der Demontage staatlicher Schutzmechanismen gegen den Markt, der gnadenlosen Durchsetzung der neoliberalen Ideologie bis in die letzten Ecken der Gesellschaft war die Linke zu weit weg von jenen, die sie eigentlich vertreten will. Die Themensetzung in den Debatten war zu sehr aus dem Gleichgewicht geraten. Daher - wie oben von Nancy Fraser ausgeführt - empfinden viele Menschen den Kampf um die Rechte von Minderheiten und gesellschaftliche Liberalisierung insgesamt als gleichbedeutend und verschmolzen mit der neoliberalen Epoche, in der ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Überspitzt hat dieses Dilemma der Literaturtheoretiker Walter Benn Michaels im Interview mit dem »Jacobin Magazin« aus den USA formuliert - mit Blick auf die Niederlage der Linken und Liberalen gegen Trump: »Die amerikanische Gesellschaft bekennt sich heute sowohl rechtlich als auch politisch zu dem Grundsatz, dass Diskriminierung das Schlimmste ist, was man tun kann. Es ist nicht ganz so schlimm, jemandem einen Hungerlohn zu zahlen, wahrend es vollkommen inakzeptabel ist, eine Person aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihres Geschlechts einen Hungerlohn zu zahlen.«
Angesichts der rassistischen Wellen, die vom US-Präsidenten angeführt werden, klingt dies zynisch, trotzdem ist in dieser Aussage Wahres zu finden. Die Widersprüchlichkeiten und Verletzungen von vielen Menschen zu sehen und besser zu begreifen ist wichtig, damit die Linke wieder handlungsfähig werden kann. Dass es ganz klar ist: Die Linken müssen sich wieder um beides gleichermaßen kümmern: radikaler Kampf gegen Diskriminierung jeder Art und radikaler Kampf für die linke Uridee - die soziale Gerechtigkeit und das Stellen der Eigentumsfrage. Denn nur, wenn sie in beiden Feldern zusammen kämpfen, bleiben Linke glaubwürdig, reflektieren ihre Geschichte und können einen aktiveren Part im Kampf gegen den Rechtsruck und den Faschismus einnehmen.
Ich kenne es aus der linken Szene, in der ich mich bewege, und auch aus den Debatten in der Bundestagsfraktion. Es wird viel über Ungerechtigkeit und die Überwindung von Hartz IV diskutiert - das ist selbstverständlich. Aber die Leute, die von den Hartz-IV-Maßnahmen betroffen sind, oder jene, die als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter schuften, haben ein genaues Empfinden dafür, ob diese Diskussionen etwas mit ihnen zu tun haben, ob es wirklich ganz konkret um sie geht oder eben nicht. Zugespitzt: Ist es wahrhaftig und authentisch?
Und deswegen ist es unumgänglich für die Linken, jede Form der kulturellen und politischen Erhabenheit zu vermeiden. Damit meine ich kein merkwürdiges Anschleimen an Arbeiterinnen und Arbeiter, an die sogenannten traditionellen Milieus (wie Robert Misik sie nennt), sondern mir geht es um Selbstreflexion und einen Auftrag an sich selbst: Niemals herabblicken. Wir müssen durchdenken, warum Menschen so geworden sind, wie sie sind, und welche Rolle die Ökonomie dabei spielt. Denn jenseits der kapitalistischen Gewalt, die so vielen angetan wird, kommt etwas hinzu, was Robert Misik gut auf den Punkt gebracht hat: »Die traditionellen Milieus haben das Gefühl, die Angehörigen der urbanen kosmopolitischen Gruppen blickten auf sie und ihren Lebensstil herab. Zur ökonomischen Verunsicherung kommt eine soziale Verunsicherung, der Status ist in doppelter Hinsicht bedroht.«
Was meint das in der Alltagspolitik? Nehmen wir das Beispiel der Proteste gegen den Klimawandel. Es ist offensichtlich, dass beispielsweise bei den »Fridays for Future«-Demonstrationen insbesondere diejenigen Kids demonstrieren, die aus Elternhäusern kommen, bei denen es mutmaßlich weniger existenzielle Alltagssorgen gibt als bei denen, die um ihr tägliches Überleben kämpfen müssen und die vermutlich sogar noch die bessere CO2-Bilanz haben. Sie werden nicht erreicht. Das macht diese Proteste selbstverständlich nicht weniger sinnvoll. Doch man muss die Zusammensetzung analysieren, um eine solche Bewegung vergrößern zu können und sie breit in der Gesellschaft zu verankern.
Für die Linke muss die soziale Dimension genauso wie das Klima im Mittelpunkt stehen. Ähnlich verhält es sich auch mit den Protesten gegen den Kohleabbau: Wenn gut gebildete Leute aus den urbanen Zentren am Wochenende in die Tagebaue einlaufen und an sich sinnvolle Proteste organisieren, fehlt etwas Entscheidendes: nämlich zunächst einmal denjenigen Respekt zu zollen (und sei es nur durch Gesten des Aussprechens oder des aktiven Aufsuchens), die über viele Generationen im Bergbau geschuftet haben und somit einen Teil unseres Wohlstandes erarbeitet haben. Es war und ist ihr Leben, mit all dem, was das Leben schön oder schlecht macht.
Ohne die Kohlekumpels beispielsweise in den ostdeutschen Braunkohlerevieren hätte es eben keine Industrialisierung und Entwicklung in der DDR gegeben. Die Menschen, die dort gearbeitet haben oder noch arbeiten, wissen selbst, dass es mit dieser Energieform zu Ende gehen wird. Diese Malocher sind ja nicht bescheuert. Mir ist wichtig, sie nicht zu vergessen oder sie als Klimaverbrecher hinzustellen. Es sind Menschen, die echt was hinter sich haben. Und sie zu hören, zu sehen und zu respektieren, ist wichtig für eine glaubwürdige Linke. Zumal sie ja nicht büßen können für die Versäumnisse der Politik - und für die Gier der Unternehmensspitzen.
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