Das andere Ende der Gewalt
Wissen über Rassismus muss Allgemeinbildung werden. Von Ulrike Wagener
Der Karneval wurde nicht abgesagt. Das war noch in Zeiten, als man die Verbreitung des Coronavirus in Deutschland nicht besonders ernst nahm. Erst recht nicht nahm man den rechtsterroristischen Anschlag in Hanau zum Anlass, das Spektakel durch Staatstrauer zu ersetzen. Staatstrauer wird es wahrscheinlich auch nicht mehr geben. Gut einen Monat nach dem Anschlag sind die Tat, die ermordeten und die um sie trauernden Menschen wenn nicht vergessen, so doch in den Hintergrund gerückt. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, für die Hinterbliebenen da zu sein, in Zeiten, in denen es durch die Corona-Pandemie, ihre sozialen und ökonomischen Folgen, keinen »normalen Alltag« gibt, in dem man Ablenkung finden kann.
Wie schaffen wir es, dass diese drängenden gesellschaftlichen Debatten im Ausnahmezustand nicht vergessen werden? Das ist eine Frage, die wir noch beantworten müssen. Deutschland hat ein großes Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus - nicht zuletzt in den Sicherheitsapparaten. Das hat nun auch ein Bericht der vom Europarat eingesetzten Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) vom 17. März bestätigt. Darin heißt es unter anderem, dass die deutsche Polizei nicht in ausreichendem Maße mit der Zivilgesellschaft kooperiere, um Hassdelikte aufzudecken. Zudem gebe es starke Indizien für ein ausgeprägtes Racial Profiling, also rassistische Polizeikontrollen. Ein weiteres institutionelles Manko sieht die ECRI in der Bildung: Die Standards für den Schulunterricht zu Menschenrechten würden nicht ausreichend umgesetzt, Lehrkräfte fühlten sich nicht hinreichend auf das Unterrichten in einem von Diversität geprägten Umfeld vorbereitet. Zudem finde sich die rassistische Rhetorik der extremen Rechten im allgemeinen politischen Diskurs wieder.
Diese Probleme haben die neuen deutschen organisationen (ndo), ein deutschlandweites Netzwerk postmigrantischer Initiativen, schon zuvor deutlich benannt. Einen Tag nach dem Anschlag von Hanau veröffentlichten sie ein »Manifest für eine demokratische Gesellschaft«, in dem sie konzentriertes Vorgehen gegen Rassismus forderten, das mit radikalen Reformen im Rechts- und Bildungssystem einhergehen müsse. Doch sie sehen auch, so die Sprecherin Ferda Ataman, dass es in Deutschland noch nie so einen großen Konsens darüber gab, dass Rassismus und Rechtsextremismus als Probleme angegangen werden müssen wie nach Hanau. Am Donnerstag etwa setzte das Bundeskabinett einen neuen Ausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein.
Doch immer noch nimmt Rassismusforschung an deutschen Universitäten nur einen geringen Stellenwert ein. Ataman sagt dem »nd«: »Wir haben fast keine Datenlage was Diskriminierung angeht, in vielen Fällen können wir uns nur auf unsere eigenen Beobachtungen stützen.« Eine Initiative kritischer Wissenschaftler*innen aus neun wissenschaftlichen Organisationen unterstützt die Forderungen der ndo und setzt auf eine Ausweitung von Forschung im Bereich Antidiskriminierung und Rechtsextremismus. Eine Ansprechpartnerin der Initiative, Christiane Leidinger von der Hochschule Düsseldorf, sagt dem »nd«: »Wenn wir über Diskriminierung sprechen, geht es am anderen Ende um Gewalt.« Deswegen sei es so wichtig, Menschen schon in einem jungen Alter zu befähigen, Diskriminierung zunächst einmal als solche wahrzunehmen. Derzeit passiert dies - wenn überhaupt - erst an den Hochschulen. Und dort fange man in der Lehre oft bei Null an. Auch Ataman kritisiert, dass Wissen über Rassismus und Diskriminierung in Deutschland nicht zur Allgemeinbildung gehört.
Antidiskriminierung, das klingt vielen oft zu akademisch, zu weit weg von der Realität. Das liegt auch daran, dass die Bedrohungslage für jene, die nicht unmittelbar von Rassismus und rechter Gewalt betroffen sind, oft abstrakt bleibt. Dieses Vermittlungsproblem zwischen akademischem Wissen und praktischen Auswirkungen von Diskriminierung sehen die Wissenschaftler*innen als Herausforderung an, der sich die Politik nun verstärkt annehmen müsse. Dafür sei eine strukturell abgesicherte Finanzierung notwendig. Die ndo betonen ebenfalls den finanziellen Aspekt - und die Teilhabe von Menschen, die direkt von Rassismus betroffen sind. Bei Forschung im Bereich Diskriminierung sei es insbesondere wichtig, so Ataman, dass von Rassismus Betroffene bereits an der Entwicklung von Forschungsdesigns beteiligt seien.
Neben Bildung zu Diskriminierung und Gewalt muss - das betont Leidinger immer wieder - in gleichem Maße der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt stehen. Auch die Coronakrise versuchen sich rechte Kreise bereits zunutze zu machen. Leidinger sieht hier eine direkte Verbindung, über Verschwörungstheorien, Rassismus und Antisemitismus. Auch hier gelte: »Man muss sie erkennen können und dann Konsequenzen daraus ziehen.«
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