- Politik
- Corona in Rojava
Keine einzige Testmöglichkeit
In der nordsyrischen Region Rojava trifft das Corona-Virus auf eine bereits stark unter Druck stehende Bevölkerung
Wie viele Corona-Infizierte und Tote gibt es bisher in Syrien?
Es ist unklar, wie viele es genau in Rojava und im restlichen Syrien gibt. Berichten lokaler Medien zufolge soll es in den türkisch besetzten Städten im Norden mindestens fünf Corona-Tote geben. Das Regime spricht in seinen Gebieten offiziell von vier Infizierten, andere Berichte dagegen von mehreren Tausend, vor allem in den Regionen Deir ez-Zor, Aleppo, Idlib, Latakia und Damaskus. Es soll insgesamt nur 1200 Testkits geben, aber keine in den einzelnen Provinzen. In Rojava sind bisher keine Fälle bekannt, die Verbreitung kann hier aber bisher auch nur anhand von Symptomen erahnt werden.
Felix Anton lebt als internationaler Freiwilliger seit über zwei Jahren in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens, bekannt als Rojava. Vor Ort steht der gebürtige Hamburger mit den Institutionen der Selbstverwaltung in Kontakt. Mit Anton sprach Sebastian Bähr. Foto: privat
Warum?
Es gibt in der gesamten Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens keine einzige Testmöglichkeit für das Virus mehr. Das einzige Testgerät, was die Selbstverwaltung besaß, befindet sich in der von der Türkei besetzten Stadt Serê Kaniyê und ist damit nicht mehr zugänglich. Hier gab es eines der am besten ausgestatteten Krankenhäuser in der ganzen Region. Wenn in Rojava ein Corona-Verdacht besteht, müssen die medizinischen Proben nun nach Damaskus geschickt werden und von Damaskus an die WHO. Diese Prozedur dauert mehr als eine Woche. Für die aktuelle Lage ist das viel zu lange. Rojava steht damit vor der großen Gefahr, dass sich das Virus unbemerkt ausbreiten kann. Die Selbstverwaltung drängt in der Situation auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Regime und der WHO. Diese meinte zumindest zuletzt, dass in al-Hasaka eine neue Testmöglichkeit entstehen soll.
Mit welchen Maßnahmen versucht die Selbstverwaltung die Bevölkerung zu schützen?
Die Selbstverwaltung versucht durch verschiedene Maßnahmen, die Bevölkerung zu schützen. Der Grenzübergang Semalka wurde für den Personenverkehr geschlossen. Dazu wurden auch Behörden, Schulen, Universitäten, Geschäfte und Restaurants geschlossen, die Freitagsgebete wurden in den Moscheen ausgesetzt. In mehreren Orten richtet die Selbstverwaltung Isolationszentren für Notfälle ein. Seit einigen Tagen gilt außerdem eine Ausgangssperre innerhalb der Städte und ein Verkehrsverbot für Personen zwischen den Städten, nur noch LKWs dürfen unterwegs sein. In den Städten selber sind notdürftig ausgestattete Desinfektionsteams unterwegs. Die autonome Verwaltung legt zudem Preise für Grundnahrungsmittel fest, um Preisauswüchse während der Pandemie zu verhindern. Bedürftige erhalten Hilfsleistungen über die Kommunen.
Wie reagiert die Bevölkerung auf die Maßnahmen?
In der Bevölkerung gibt es bisher keine Panik oder Angst, aber schon einen gewissen Respekt vor der Gefahr durch Corona. Viele Menschen versuchen, Abstand zu halten, man gibt sich seltener die Hand. In manchen Orten merkt man aber auch keine so großen Unterschiede, da wird die Situation noch nicht ganz so ernst genommen.
Wie ist der Zustand des Gesundheitssystems in Rojava?
Im Gesundheitssystem von Rojava hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, neue Krankenhäuser wurden gebaut und neues Personal ausgebildet. Doch weiterhin sind die Strukturen von der Kriegs- und Besatzungssituation geprägt. In Rojava mangelt es an allem. Nur eins von 16 Krankenhäusern ist voll funktionsfähig, nur 28 Betten auf Intensivstationen und nur zehn Beatmungsgeräte für Erwachsene stehen zur Verfügung. Und das bei einer Bevölkerung von über zwei Millionen Menschen. Schon ab wenigen Tausend Infizierten würde es zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen. Dazu gibt es derzeit massive Probleme mit der Wasserversorgung.
Was meinen Sie?
Die Wasserversorgung von Rojava wurde kürzlich durch die Türkei vollständig unterbrochen, da sie Stromlieferungen für die jüngst besetzten Gebiete fordert. Das Druckmittel wurde möglich, da das für die Region wichtige Wasserwerk Elok nahe der besetzten Stadt Serê Kaniyê liegt. Nach UN-Angaben sind dadurch momentan 460.000 Menschen in Rojava ohne Zugang zu Wasser, die Selbstverwaltung spricht sogar von einer Million. Die Leute haben damit auch kein Wasser mehr für ausreichend Hygiene, die Krankenhäuser sind ebenfalls betroffen, all das begünstigt eine Ausbreitung von Corona. Die Selbstverwaltung versucht mittels der Reaktivierung vormals stillgelegter Pumpstationen, mobiler Tanklastwagen und der Aufstellung von Wasserbehältern zu reagieren. Dazu finden unter russischer Vermittlung Verhandlungen mit der Türkei statt. Ankara spielt hier jedoch mit dem Feuer.
Finden in dieser Situation weiterhin Kämpfe statt?
Die Syrisch-Demokratischen Kräfte sind dem Aufruf der UN gefolgt und haben eine humanitäre Waffenruhe ausgerufen. Die Türkei und die mit ihr verbündeten Milizen bombardieren jedoch weiterhin die Gebiete nahe der Front. Gestern traf es die Stadt Til Temir und die Shahba-Region. Bei dem Angriff auf letztere wurden auch Zivilisten verletzt.
Wie ist die Lage für die Geflüchteten?
Es gibt in Rojava mehrere Hunderttausende Flüchtlinge in großen Camps, diese sind in der aktuellen Situation besonders gefährdet. Alleine in Shahba leben etwa 200.000 Vertriebene aus Afrin. Für sie stehen insgesamt nur drei Beatmungsgeräte zur Verfügung, Schutzkleidung und Atemmasken sind nicht vorhanden. Im al-Hol-Camp leben wiederum etwa 80.000 Menschen auf engstem Raum. Wenn sich das Virus hier ausbreitet, wird es nicht mehr aufzuhalten sein. Das wäre eine Katastrophe.
Was schränkt die Versorgung der Bevölkerung noch ein?
Die türkische Besatzung hat die Versorgung der Bevölkerung auch schon ohne die Corona-Pandemie stark einschränkt. In der Gegend um Kobane kommt es zu Versorgungsengpässen, da LKWs nicht mehr aus dem westlichen Nordsyrien kommen können und die zentrale Autobahn M4 durch türkische Truppen und verbündete Milizen besetzt ist. Die meisten Lieferungen müssen aus dem Nordirak eingeführt werden, was große Umwege bedeutet. Durch die Sanktionen der USA gegen Damaskus und die Invasion der Türkei kam es zudem zu einer schweren Wirtschaftskrise. Die syrische Lira erlebt eine Inflation von 100 Prozent. Rojava importiert viele Waren, zahlreiche Produkte sind sehr teuer geworden. Seit Anfang Januar gibt es zudem keine offiziellen Hilfslieferungen mehr nach Rojava, da Russland in der UNO ein Veto dagegen eingelegt hatte. Hilfe läuft nur noch über Damaskus.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise für den IS?
Die konkreten Folgen sind hier noch unklar. Der IS hat seinen Schläferzellen empfohlen, sich nicht mehr so viel zu bewegen, um Ansteckungen zu verhindern. Für die Bevölkerung in Rojava besteht gerade eher die Gefahr von Aufständen wegen der Corona-Gefahr in den Gefängnissen und Camps, in denen immer noch Tausende IS-Gefangene und ihre Angehörigen untergebracht sind. Vor einigen Tagen gab es in al-Hasaka bereits einen Aufstand in der Nacht. Die internationale Anti-IS-Koalition musste daraufhin Kampfflugzeuge entsenden.
Was braucht Nordsyrien jetzt?
Die WHO und die Vereinten Nationen müssen schnelle und unbürokratische Hilfe leisten. Das tun sie jedoch bisher nicht, da Rojava keinen offiziellen Status hat. Vor Ort fehlt es vor allem an Material. Die Selbstverwaltung und der Rote Kurdische Halbmond brauchen Beatmungsgeräte, Schutzanzüge und Masken sowie Testmöglichkeiten für Corona. Internationale Solidarität ist hier gefragt, jede Spende wird benötigt. Ziel muss sein, dass die Corona-Krise in Rojava milde abläuft und es nicht zu Tausenden Toten kommt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.