Sagenhafte und andere Thüringer

Bücher geben kluge Kunde vom Leben, Treiben und Tun im Land zwischen Saale und Werra

  • Oswin Huber
  • Lesedauer: 5 Min.

Von Oswin Huber

»Wo noch in deutschen Landen findet man so viel Gutes auf so engem Fleck?«, staunte einst Johann Wolfgang Goethe. Er war aus dem hessischen Frankfurt am Main herübergekommen, um im sächsischen Leipzig zu studieren und dann in Thüringen, vornehmlich in Weimar und Jena, zu arbeiten, gut und gern zu leben. Ähnlich sein Kollege und Nachbar im Alltag wie im Streite und Geiste, Friedrich Schiller aus dem württembergischen Städtchen Marburg.

Vieles im geschichtsträchtigen, grünbewachsenen Land zwischen Saale und Werra beflügelte die Dichterfürsten, ritten oder kutschierten sie gen Thüringer Wald oder Harz. Sie begegneten anderen Denkern, Forschern, Schreibenden, Spinnern wie kunstgesinnten Fürsten. Wohlfeile Unterhaltung für Auge und Ohr, allerhand Kultur, Volkskunst, steinerne Zeugen wie Bauten, Burgen und Schlösser drängelten sich im kleinen naturreichen Land in der Mitte deutscher Kleinstaaterei. Verblüffend, die heutige Landkarte zeigt ein ähnliches Bild: Der geografische Mittelpunkt der Bundesrepublik Deutschland liegt seit der Wiedervereinigung in Thüringen - bei Oberdorla, Landgemeinde Vogtei im westthüringischen Unstrut-Hainich-Kreis!

Bis heute ist Thüringen in aller Munde, beliebt bei bodenständigen Grob- und Feinschmeckern - erwähnt seien nur Rostbratwurst, Kloß, Zwiebelkuchen, der huckelige Prophetenkuchen zum Holzländer Rumkaffee, Doppelkorn aus der Goldenen Aue oder Schwarzbier vom Mittellauf der Weißen Elster.

Doch Thüringen, einst als das »Grüne Herz Deutschlands« bezeichnet, mal rot, mal schwarzbraun, das sich heute stolz »Freistaat« nennende Bundesland rechts und links der Städtekette Altenburg, Gera, Jena, Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach, liegt heutzutage allerhand Bürgern hie und da auch schwer im Magen.

Seit 1000 Jahren tut sich zwischen Eichsfeld und Großem Inselsberg wahrlich Sagenhaftes. Die letzten Monate sorgten die Thüringer für politische Pendelschwingungen, die in Schwarz-Weiß und bunt nicht nur Goethes Farbenlehre ins Schwanken gebracht haben. Mag sein, die heutigen Wähler und Gewählten, und auch die Sicheinmischer, Bevormunder, Besserwisser und Dummschwätzer, Mutigen wie Ängstlichen oder Bedachten, werden in ferneren Zeiten auch als sagenhafte Thüringer beschrieben und besungen.

Das erlebte Polittheater hat beste Aussicht, in die Sammlung sagenhafter Thüringer Geschichte und Geschichten einzugehen. Doch bei allen Blicken nach links, rechts, oben, unten und durch die Mitte, vergesse man nicht die frühen Ahnen, die Thüringen einst bevölkerten, prägten und bekannt machten.

Eigentlich wollten sich nun diese Altvorderen zur Leipziger Buchmesse wieder versammeln. Es gibt ja in Thüringen noch einige kleine, umsichtige Verlage, die sich gedruckt wie elektronisch der Vorfahren widmen. Zum Beispiel, der Südthüringer Amicus-Verlag nahe der einst blühenden Spielzeugstadt Sonneberg an der Grenze zu Franken. Er hat mehr oder weniger bekannte Vergangene und Verblichene hervorgeholt. Diese früheren Landsleute bevölkern das Buch »Sagenhaftes Thüringen«, in dem 36 alte Geschichten vom Jenenser in Berlin, Klaus Fischer, mit Augenzwinkern frei neu erzählt, für Leute von heute versammelt sind.

Man begegnet Gestalten aus dem bunten Herzen Deutschlands, das sich einst als Königreich Thüringen von der Altmark bis an die Donau erstreckte. Da tauchen neben armen und reichen auch fleißige und faule Landsleute auf: Der zweibeweibte Graf von Gleichen, der ertrunkene Kaiser Rotbart, Riesenspielzeug, Hupfmännl, Lindwurm, Freischütz, Einhorn, Wichtel, Nixe, Ritter, Feen, Riese, Leckarsch, Bierkrieg, Jauchebad Erfurt, Mördergrube Rhön, Ludwig der Springer, der Eiserne Landgraf, Sängerstreit hoch droben in der Wartburg, die Heilige Elisabeth, Tannhäuser im Liebesnest der Frau Venus, gar eine totgekitzelte Elefantin, schließlich: Fürstenblut für Ochsenblut!

»Spaß macht es jedenfalls, wie man hier in eine bunte Sagenwelt eintauchen kann - mit Geisterwesen und Menschen, die einem gar nicht so fern-fremd erscheinen«, schrieb Irmtraud Gutschke in »neues deutschland«.

Die Amicus-Verlegerin Ingrid Maikath bedauert mit den von ihr aufgeweckten sagenhaften Gestalten, dass die diesjährige große Bücherschau ausfallen musste. Nun ja, »Sagenhaftes Thüringen« steht im Bücherregal des heutigen Ministerpräsidenten, wie auch seiner Vorgängerin. Diesen Politikern könnte das Leitwort der Publikation, das Amicus von Jacob und Wilhelm Grimm abgeschrieben hat, zugesagt haben: »In gutem Sinne heißt deutsch reden: offen, deutlich, derb rücksichtslos sprechen, kein Blatt vor den Mund nehmen!«

Illustriert haben es Peter Muzeniek und Horst Hausotte. Ein touristischer Anhang lädt zur Spurensuche ein.

Auch alte mitteldeutsche Märchen geben kluge Kunde vom einstigen Leben, Treiben, Tun und Lassen im Thüringerland. Eine vom Meininger Literaten Ludwig Bechstein vor 175 Jahren dem Volksmund abgelauschte Erzählung hat der Amicus-Verlag gefunden und als kleines, feines, unterhaltsames, reich illustriertes Buch herausgebracht: das Märchen »Die beiden kugelrunden Müller«, Untertitel: Waffeln statt Waffen!

Neu erzählt und bebildert von zwei Thüringern, Klaus Fischer und Wolfgang Wündsch; geht es um Freund oder Feind. Ein Stoff, der leider weltweit immer noch bedrohlich aktuell ist. Darüber schrieb Karlen Vesper im nd: »Subversiv. Waffeln statt Waffen! - das ist doch eine vernünftige Losung, die man sich auf die Fahnen schreiben kann.«

»Die beiden kugelrunden Müller« - eine Erzählung frei nach Ludwig Bechstein (1801-1860). Der Thüringer Archivar hat Sagen und Märchen gesammelt, darunter jenes von zwei Müllern, die Nachbarn waren und fast zu unerbittlichen Feinden wurden. Sie bekriegen sich, mahlen nicht mehr, das Volk hungert und muckt auf, fordert: Waffeln statt Waffen!

Schließlich werden die Handwerker wieder friedlich und vertragen sich. In »neues deutschland« war zu lesen: »Schon Mitte der 1980er Jahre wollte der DDR-Fernsehjournalist Klaus Fischer das von ihm neu verfasste Märchen publizieren, doch die Zensur vermutete darin den subversiven Wunsch nach einer deutschen Wiedervereinigung!«

Nun tummeln sich friedlich vereint »Die beiden kugelrunden Müller« doch noch zwischen Buchdeckeln im inzwischen mehr oder weniger wahr gewordenen deutschen Märchen. Eine kugelrunde Empfehlung! Dem Familienbuch vorangestellt ist ein Vers aus Ludwig Bechsteins »Der Todtentanz - Ein Gedicht« von 1831: »Dem Unersättlichen in jeglichem Genuß wird selbst das Glück zum Überdruß!«

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