Die Möglichkeiten einer leeren Straße

Die algerische Protestbewegung verzichtet freiwillig auf Proteste während der Coronakrise/ Über 1200 Aktivisten angeklagt

  • Claudia Altmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Die seit über einem Jahr andauernden landesweiten Demonstrationen für einen radikalen Wandel des Systems und die Einführung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind angesichts der Corona-Pandemie zunächst ausgesetzt. Damit kam die Protestbewegung, der Hirak, den staatlichen Maßnahmen zuvor, die erst Tage später den Lehrbetrieb an Schulen und Universitäten, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr und zuletzt auch die Zusammenkünfte in den Moscheen einstellen ließ.

Das 40-Millionen-Land hatte durch das Virus am Donnerstag nach offiziellen Angaben 58 Tote zu beklagen und 847 Träger des Virus registriert. Lediglich neun der 48 Landesbezirke sind bislang nicht von der Pandemie betroffen. Mittlerweile gelten Kontaktverbote und nächtliche Ausgangssperren im größten Teil des Landes.

Der Hirak indes erfindet sich in dieser Situation neu. Statt gemeinsam zu demonstrieren, organisieren die Anhänger der Bewegung jetzt Hilfsaktionen für Bedürftige, desinfizieren öffentliche Plätze. Studierende der TU Algier stellen mit Spenden Desinfektionsmittel her oder führen Sensibilisierungs- und Informationskampagnen digital und analog durch.

Während jedoch die Protestbewegung zum landesweiten Innehalten aufrief, sieht sie sich verstärkten Repressionen seitens der Machthaber ausgesetzt. In mehreren Städten wurden Aktivisten des Hirak polizeilich vorgeladen und inhaftiert. Für einen Aufschrei der Entrüstung sorgte der Fall des Oppositionellen Karim Tabbou. Der Sprecher der Sozialdemokratischen Union und einer der bekanntesten Aktivisten des Hirak war zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Ende März wurde ihm zwei Tage vor seiner Entlassung überraschend erneut der Prozess gemacht. Seine Anwälte wurden darüber nicht informiert. Ohne jeglichen Rechtsbeistand verurteilten ihn die Richter zu einem weiteren Jahr Haft. Der 47-jährige erlitt im Gerichtssaal einen Schwächeanfall und befindet sich seitdem nach Informationen seiner Anwälte in einem besorgniserregenden Zustand.

Wenige Tage später wurde gegen den Journalisten Khaled Drareni Untersuchungshaft angeordnet. Der Gründer eines Internet-Nachrichtenportals und Korrespondent von Reporter ohne Grenzen wurde bereits Anfang März während der Berichterstattung auf einer Demonstration in Algier festgenommen, aber zunächst auf freien Fuß gesetzt. Ihm werden »Anstiftung zu unbewaffneter Massenansammlung« sowie »Angriff auf die nationalen Einheit« vorgeworfen.

Etwa 200 algerische Medienschaffende reagierten unverzüglich mit einem Aufruf, in dem sie an die von der Verfassung garantierte Pressefreiheit erinnern und Drarenis sofortige Freilassung fordern. Das Nationale Komitee für die Freilassung der Gefangenen spricht von »schwerwiegenden Entgleisungen« und wirft den Behörden Intransparenz vor.

Nach Angaben des Komitees wurde gegen mehr als 1200 Aktivisten der Protestbewegung Anklage erhoben. Wie viele davon inhaftiert sind, liege im Dunkeln. »Jetzt, da die Regierungen anderer Länder alles tun, um die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu schützen, passiert hier genau das Gegenteil«, kritisiert die Anwältin Fetta Seddat in einer Erklärung des Komitees. »Die Machthaber gehen derzeit auf friedliche Aktivisten los, inhaftieren immer mehr, um den Hirak seiner Substanz zu berauben«, heißt es in der Erklärung.

Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune begnadigte wegen der Pandemie 5037 Gefangene. Jene, die wegen politischen Überzeugungen oder Meinungsäußerung sitzen, befänden sich nicht auf der Liste, hieß es aus Anwaltskreisen.

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