Hochgefährlich und hochbegehrt

Warum in den USA Menschen krank zur Arbeit gehen und ein immenser Konkurrenzdruck in »systemrelevanten« Jobs herrscht

  • Felix Schulz
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer in diesen Tagen in einer New Yorker Wohnung sitzt, wird von regelmäßigen Sirenen vorbeirauschender Krankenwagen beschallt. Jedes Heulen bedeutet tausende Dollar an Kosten für jene, denen eigentlich geholfen werden sollte. Jede Behandlung birgt die Gefahr des potenziellen Ruins für Patienten. Denn eine ausreichende Gesundheitsversorgung kann sich nur leisten, wer einen guten Job hat.

Dieser elitäre Zirkel schrumpft von Tag zu Tag. Allein 6,6 Millionen Menschen meldeten sich in der letzten Woche in den USA arbeitsuchend. Viele Unternehmen haben seit Beginn der Krise ihre Mitarbeiter schlichtweg entlassen - insbesondere in den paradoxerweise »right to work states« genannten Staaten, die Arbeitgebern unzählige Freiheiten geben, grundlose Kündigungen auszusprechen. Und die, die noch Jobs in der Krisengewinner-Ökonomie von Lieferdiensten wie Amazon haben, werden vielfach gezwungen ohne ausreichenden Schutz vor Covid19 zu arbeiten.

Das bewegt derzeit mehr und mehr Arbeiter zu sogenannten Wildcat Strikes. Diese in den USA eigentlich illegale Praxis beschreibt das koordinierte Verlassen der Arbeitsstätte ohne Absprache mit den Gewerkschaften. Ende März streikten so Mitarbeiter des Supermarktlieferservices Instacart - Mitarbeiter sollten eigenes Desinfektionsmittel zur Arbeit bringen und sind bis heute nicht krankenversichert. Aktionen gab es diese Woche auch bei der Amazon-Tochter und Supermarktkette Whole Foods.

In Supermärkten, bei Paketdiensten und in der Pflege hat sich das Arbeitsvolumen vervielfacht, ebenso der Umsatz der in diesen Branchen operierenden Unternehmen. Die Gehälter bleiben gleich – dem erhöhten Gesundheitsrisiko zum Trotz. Das ist in den USA besonders stark auf die Beschäftigten verlagert. Das zeigt die Coronakrise besonders deutlich.

Wer den Anforderungen nicht gerecht wird, kranke Angehörige pflegen muss oder selbst erkrankt, muss auf Gehalt verzichten. In medizinischen Notfällen oder bei Todesfällen in der Familie könnten andere Beschäftigte ihre bezahlten Krankentage spenden, hieß es dazu Mitte März aus der Whole-Foods-Zentrale. Das ist kein Ausnahmefall, sondern die Regel.

Die Regularien zu bezahlten Krankentagen werden nicht auf Bundes-, sondern auf bundesstaatlicher Ebene festgelegt. In New York dürfen Arbeitnehmer ganze 40 Stunden im Jahr krank zuhause bleiben, jede weitere Stunde wird fortan nicht mehr bezahlt. Das trägt dazu bei, dass Menschen krank zur Arbeit kommen, um ihre Miete und ihr Essen bezahlen zu können, und treibt damit die Verbreitung des Virus voran. Die hochgefährlichen Jobs mit Kundenkontakt sind dennoch begehrt wie selten zuvor. Viele wissen nicht, wie sie sonst ihre Miete bezahlen sollen – Obdachlosigkeit und die Gefahr zu verhungern sind reale Ängste.

In diesem Klima mag es verwundern, dass im letzten Jahr nur 6,2 Prozent der Arbeitnehmer im privatwirtschaftlichen Sektor gewerkschaftlich organisiert waren. Millionenschwere Werbekampagnen gegen Gewerkschaften, die konsequenten Kündigungen aller, die sich organisieren, haben Wirkung gezeigt.

Trotzdem ändert sich die gesellschaftliche Wahrnehmung. Die Wildcat-Streiks zeigen: Viele Beschäftigte kämpfen dafür, dass zumindest ihr Grundbedürfnis zu überleben Beachtung findet. Sie fordern effiziente Hygienemaßnahmen, adäquate Bezahlung im Krankheitsfall und Gefahrenzulagen. Mit ihren Arbeitgebern und der Regierung haben sie jedoch starke Gegner.

Das bekam kürzlich auch Chris Smalls zu spüren. Der Angestellte in einem Lagerhaus von Amazon in New York organisierte einen spontanen »Walkout«, nachdem Amazon mehrere Corona-Erkrankungen unter den Teppich gekehrt hatte und sich weigerte, das Lager ausreichend zu desinfizieren. Smalls, Vater dreier Kinder, ist nun arbeitslos. Arbeitskraft ist ersetzbar. Dennoch gibt es in der Coronakrise immer wieder spontante Arbeiter-Gegenwehr: in Pittsburgh streikte die Müllabfuhr, in Birmingham die Busfahrer. In Michigan streikten Beschäftigte von Chrysler, nachdem zwei ihrer Kollegen an Corona starben.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.