Ohne Essen ins Bett
Der Science-Fiction-Thriller »Der Schacht« macht die Klassengesellschaft zum Thema und ist schwarzhumoriges Körperkino
Hunderte Ebenen sind untereinandergeschichtet. Wie viele genau es sind, weiß man zu Anfang noch nicht. Eine strenge Hierarchie: Einmal am Tag wird in den Schacht eine große Plattform mit feinstem Essen hinabgelassen, die alle Stockwerke durchläuft: Die auf den oberen Ebenen lebenden Schachtbewohner können sich ohne Ekel satt essen. Kommen die Speisen in der Mitte des Schachts an, ist die Essensplattform schon einigermaßen geleert und das Essen bereits arg ramponiert. Je weiter nach unten es geht, desto weniger kommt an. Am Ende bleibt dann nur zerschlagenes Geschirr. Aber nicht alle, die unten sind, müssen verhungern. Weil die Schacht-Insassen ihre jeweilige Ebene immer zu zweit bewohnen und weil das hier ein Horrorfilm ist, bleibt noch der Kannibalismus als Option und einzige Überlebensmöglichkeit.
Der Schacht will offensichtlich allegorisch verstanden werden: als Bild für eine unhintergehbar hierarchisierte Gesellschaft, in der eigentlich genug für alle vorhanden wäre, die aber den oben lebenden Insassen die Freiheit lässt, mit ihren Entscheidungen über das Schicksal der unten Einsitzenden zu verfügen. Obwohl, der Begriff »Allegorie« trifft es nicht so ganz. Der Zweck des Schachts wird zwar nicht klar, aber es gibt Andeutungen, die nahelegen, das ganze sei ein Versuch an lebenden Objekten, so wie die Versuchsanordnungen Stanley Milgrams oder das Stanford-Prison-Experiment, die eigentlich beide, unabhängig davon, wie valide das alles war, zum Horrorgenre gehören. Heißt: Deuten muss man erst einmal nichts. Der Schacht lässt die Figuren ihre Erkenntnisse über das Tun und Lassen der Menschen direkt aussprechen (dass die Figuren 26-mal das Wort »offensichtlich« sagen, wird kein Zufall sein).
Dementsprechend idealtypisch wirken die Figuren, die keine Charaktere sind, sondern Schablonen, zurechtmodelliert von den Laborleitern, also den Drehbuchautoren (David Desola und Pedro Rivero) und dem Regisseur (Galder Gaztelu-Urrutia).
Goreng, der Held des Films, ist ein zauseliger Intellektueller, denn er hat ein Buch dabei. Jeder, der in den Schacht geht, darf eine Sache mitnehmen. Und weil Desola, Rivero und Gaztelu-Urruti es eben offensichtlich gerne deutlich haben, ist es im Falle von Goreng Cervantes »Don Quijote de la Mancha«. Jeden Monat werden die Insassen auf eine andere Ebene des Schachts verfrachtet, nach einem für sie nicht durchschaubaren Prinzip. Ab Ebene 50 abwärts wird es eng. Goreng beginnt auf Ebene 23, dann geht es runter, dann wieder aufwärts und am Ende so weit nach unten wie überhaupt möglich.
Bei seiner Reise durch den Schacht trifft er unter anderem auf einen Psychopathen (mit Messer), auf eine Hundehalterin, die es gut mit den Menschen meint, und auf einen religiös Erweckten (mit einem Seil, mit dem er sich in den Himmel hangeln will).
Der Idealismus stirbt zuerst: Goreng realisiert schnell, dass die Menschen sich in der Not schlimmer aufführen als die Tiere. Es wird aufeinander gepisst und geschissen, buchstäblich. Jeder Appell an den Gemeinsinn verhallt. Im Schacht hilft nur die Drohung mit Demütigung und Gewalt. Erst wenn man den Hungrigen auf der jeweils nächsten unteren Ebene ankündigt, auf ihr Essen zu kacken, fangen sie an, ihre Rationen wie Gattungswesen einzuteilen und sich nicht wie Figuren aus einem Fiebertraum von Thomas Hobbes zu verhalten.
Die Idee, eine Gesellschaft in einem Mikrokosmos unter extremen Bedingungen darzustellen, ist nicht neu und funktioniert mal mehr (zum Beispiel in Bong Joon-hos Film »Snowpiercer« oder Pasolinis »Salò - Die 120 Tage von Sodom«), mal weniger gut, nämlich in diesem Fall. Dazu später mehr. Auf der Ebene des Körperhorrors randaliert »Der Schacht« aber ausgesprochen effektiv drauflos. Die Raumarchitektur ist eigentlich zu schade für Netflix, sondern gehört auf eine große, sehr große Leinwand. Der in die bodenlose Tiefe hinabweisende Schacht erzeugt, wenn man eh schon Höhenangst hat, ein angstlustiges Ziehen im Magen. Und die Gleichzeitigkeit von höchster Höhe und engem Raum sorgt für klaustrophobische Ambivalenz: Man weiß nicht, ob der Zuschauer Angst vorm Abstürzen oder vorm Ersticken haben soll. Im Zweifelsfall halt beides.
Bei der Inszenierung des streng terminierten Fressens - zwei Minuten haben die Insassen, um sich das einzuverleiben, was auf der von oben nach unten durch den Schacht gleitenden Plattform aufgetischt ist - hält sich der Film an die Konventionen des drastischen Horrorfilms: Close-ups auf fettverschmierte Münder und Zähne, hochgemischte Kau- und Schmatzgeräusche, es ist wirklich zum Kotzen. Der Kannibalismus ist da eine nur noch graduelle Steigerung.
Körper sind hier jedenfalls immer mit Ekel und Verschlingen assoziiert. Selbst der erotische Traum, mit dem der irgendwann fast verhungerte Goreng sich tröstet, wirkt, als würde gleich jemand gegessen. Auch der Altruismus ist eng an den Körper gebunden: Selbstlosigkeit im Schacht bedeutet, dass ich mich gefälligst aufhänge und mich nicht die paar Hundert Meter hinabstürze, wenn ich mich umbringen will. Denn dann kann der tote Körper noch zum Überleben des Zellenkollegen beitragen.
Als Körperkino ist das alles, wie gesagt, so schwarzhumorig, brutal und ekelhaft, wie es gedacht ist, und damit sehr zu empfehlen. Wenn man so etwas mag. Auf der Ebene, auf welcher der Film sich als Gesellschaftsbild verstanden wissen will, wirkt das Ganze am Ende dann doch etwas fahrig. Man muss diesen Anspruch an diesen alles in allem sehr sehenswerten Film nicht haben. Wenn man ihn aber zum Maßstab nimmt, kommt die Konstruktion doch schnell an ihre Grenzen. Das Zufallsprinzip - jeweils zu Beginn eines neuen Monats wacht man als Insasse auf einer anderen Ebene auf, weiter oben oder weiter unten - löst die Idee, es ginge hier um Klassen, gerade auf. Auch die Hierarchien der Beherrschten (und der beherrschten Herrschenden) setzen sich in der Wirklichkeit außerhalb des Kinos nicht nach dem Zufallsprinzip zusammen. Die Antworten, die der Film auf die Fragen nach den Möglichkeiten von Solidarität entwickelt, bleiben dementsprechend immer verbunden mit dem jeweiligen schematischen Charakter der Figuren.
Vielleicht fiel deswegen den Machern für das schwächere letzte Drittel des Films kein anderer Ausweg als der messianische mehr ein. Man merkt Galder Gaztelu-Urrutias Regiedebüt an, dass es nicht so recht weiß, wie ein Ende zu finden wäre. Da wird dann im fast letzten Moment eine Erlöserfigur in die Erzählung geschubst. Und Abspann. Der Zuschauer geht derweil lieber ohne Essen ins Bett.
»Der Schacht«, Spanien 2019. Regie: Galder Gaztelu-Urrutia; Darsteller: Iván Massagué, Antonia San Juan, Zorion Eguileor. 94 Min. Auf Netflix abrufbar.
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