Wenn die Religion pausiert

Ligen und Verbände wollen Sportfans online bei der Stange halten, doch das gelingt nur bedingt

»Dynamo ist meine Religion«, sagt Lutz Siebeneichler und muss bei der Frage nach seinem Glauben nicht mal lange nachdenken. Der 57-jährige Dachdecker lebt in Thallwitz, das eher in der Nähe von Leipzig liegt, aber mit RB, Lok oder Chemie hat er nichts am Hut. Die Eltern stammen aus Dresden, und »ich bin Fan, seitdem ich denken kann«, sagt Siebeneichler dem »nd«. 1977 war er zum ersten Mal im Fußballstadion. Im Europapokal der Landesmeister stand das Viertelfinalrückspiel von Dynamo Dresden gegen den FC Zürich an. »Mein Vati hatte mich mitgenommen«, weiß Siebeneichler noch wie heute, denn es war ein ganz besonderes Spiel.

Beim Stand von 3:1 standen die Dresdner mit einem Bein im Halbfinale, dann aber fiel noch ein Tor für die Schweizer, die das Hinspiel gewonnen hatten. Dynamo schied aus. »Die Fans vor uns hatten Holzstiegen mitgebracht und sich darauf gestellt. Ich hatte also wenig Chancen, das Spielfeld zu sehen, hab aber trotzdem einiges mitbekommen. Es ist tragisch ausgegangen, und das Erlebnis hat sich eingeprägt.«

Siebeneichler ist heute Fan durch und durch. Er, seine Frau Uschi und selbst die sechsjährige Enkelin haben Dauerkarten für die Heimspiele Dynamos. Lutz fährt sogar zu fast allen Auswärtsspielen durch die Republik. Jetzt aber pausiert die Religion - wegen Corona. »Am Wochenende habe ich jetzt mehr Freizeit. Natürlich ist Dynamo auch Freizeit, aber als richtiger Fan investiert man viel Zeit und Geld. Nun kann man sich andere Dinge vornehmen.« Was aber machen Sportfans wie er, wenn sie nicht in die Hallen und Stadien pilgern können?

Die Ligen und Verbände versuchen auf verschiedene Weise, ihnen Ersatz zu bieten - und das nicht nur im Fußball. Die Major League Baseball etwa stellt viele Spiele aus der Vergangenheit kostenlos und in voller Länge ins Internet. »Der Tag der Saisoneröffnung ist in den USA so was wie ein Feiertag«, antwortete eine MLB-Mitarbeiter auf eine nd-Anfrage. »Als klar war, dass wir wegen Covid-19 nicht am 26. März spielen können, wollten wir unseren Fans die Möglichkeit geben, trotzdem den Opening Day zu feiern. Da haben wir OpeningDayAtHome ins Leben gerufen.«

Zunächst gab es Klassiker auf der Website der Liga, aber auch auf Youtube zu sehen. Spiele, die sonst »aus rechtlichen Gründen«, nicht frei empfangbar seien, konnten Fans nun doch sehen. »Wir hatten 26 Millionen Zuschauer«, zählte die MLB. Also wurde nachgelegt: Seit Neuestem stehen alle Spiele der Jahre 2018 und 2019 auf MLB.TV zur Verfügung. Insgesamt sind es mehr als 4800.

Der Fußballweltverband Fifa probiert Ähnliches. Er lässt Fans abstimmen, welche Klassiker der WM-Geschichte sie noch mal sehen wollen. Auch das legendäre 7:1 der deutschen Mannschaft 2014 im Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien findet sich mittlerweile auf der Youtube-Seite der Fifa. »Fast acht Million Leute haben sich die Spiele schon angeschaut«, heißt es von einem Fifa-Sprecher. Den offiziellen Film zur WM 2018 hätten sich zudem zwei Millionen Fans angesehen.

Lutz Siebeneichler ist keiner von ihnen. »Mit der Nationalmannschaft kann ich mich nicht so richtig identifizieren«, sagt er. »Zu DDR-Zeiten hab ich die schon verfolgt. Und nach der Wende hatten wir 1990 die beste deutsche Nationalmannschaft aller Zeiten, denke ich. Heute habe ich für sie aber nicht mehr so viel übrig.«

Auf Vereinsebene wird ihm derzeit aber kaum etwas geboten. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) zeigt keine alten Klassiker, weder aus der 1. noch aus der 2. Bundesliga, in der Dynamo Dresden seit 2016 rangiert. Es gebe aktuell keine konkreten Pläne, »aber regelmäßige Gespräche mit unseren Medienpartnern«, heißt es von einem Sprecher der DFL.

Die Liga ging an den vergangenen Wochenenden einen anderen Weg: mit der »Bundesliga Home Challenge«, einem eFootball-Turnier, an dem insgesamt 29 Klubs teilnehmen. Mehr als zwei Millionen Zuschauer habe man gezählt, was deutlich über den bisherigen Reichweiten der VBL-Club Championship liege, dem regulären eSport-Angebot der DFL. Kommentaren in sozialen Medien zufolge hätten sich auch eSport-ferne Menschen die Spiele angesehen, da bei allen Mannschaften, die aus je zwei Mitgliedern bestehen, immer auch ein echter Fußballprofi an der Konsole dabei sein muss. So spielte Achraf Hakimi für Borussia Dortmund, Davie Selke für Werder Bremen und Mittelfeldspieler Justin Löwe für Dresden, der Bayer Leverkusens Wendell mit 4:0 bezwingen und Dynamo so den Sieg sicherte.

Doch auch das ist an Lutz Siebeneichler vorbeigegangen. »Dafür bin ich wahrscheinlich die falsche Generation. Das schau ich mir nicht an«, sagt er. Natürliche vermisse er den Fußball, am meisten aber »die Nebeneffekte«, wie er es beschreibt. »Wir machen jetzt Konferenzen mit den Kumpels über WhatsApp, um die über die Jahre gewachsenen Freundschaften zu pflegen.« Ansonsten richtet er sich gerade ein Dynamo-Vereinszimmer in seiner ehemaligen Garage ein. Damit hatte er schon vor Corona begonnen, jetzt aber hat er endlich ausreichend Zeit dafür.

Wer meint, diese Unterbrechung sei nichts anderes als die reguläre Sommerpause, liegt bei Lutz Siebeneichler falsch. »Darauf freuen wir uns ja immer, weil wir seit 2012 zu den Trainingslagern mitfahren. Auch die Wintertrainingslager sind fest im Kalender unserer ›Reisegruppe Antalya‹ verankert«, berichtet er. Jetzt ist völlig unklar, wann sie sich wieder trifft.

Für den Dynamo-Fan ist klar: Die aktuelle Saison sollte annulliert werden. Den Dresdnern käme das natürlich gelegen. Als Tabellenletzter würden sie derzeit absteigen. Mit Geisterspielen die Saison doch noch zu beenden, lehnt Siebeneichler ab. »Fußball ohne Fans ist kein Fußball, und Geisterspiele wären Wettbewerbsverzerrung: Wir stecken mitten im Abstiegskampf. Da braucht die Mannschaft die Fans als Unterstützung viel mehr als zum Beispiel der große FC Bayern München. Die spielen immer ihren Stiefel runter.«

Die TV-Einnahmen sollten dennoch fließen, und je nach Finanznot an die Klubs verteilt werden, findet Siebeneichler. »Ich bin selbst Sky-Kunde und bekomme mein Geld nicht wieder. Ich würde es auch nicht haben wollen. Der DFL geht es aber nur um die Kohle.«

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