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Spiel des Lebens
Für den Genozid in Ruanda rekrutierten Milizen ihre Kämpfer auch auf Bolzplätzen und Tribünen. Inzwischen ist Fußball ein Medium der Versöhnung
Am 7. April 1994 beginnen Hutu-Milizen, ihre lange vorbereiteten Mordlisten abzuarbeiten. Sechs Soldaten stürmen die Wohnung des Tutsi Eric Murangwa, er ist Torwart des beliebtesten Fußballvereins im Land, Rayon Sports. Im Chaos landet ein Fotoalbum aufgeschlagen auf dem Boden. Ein Soldat erkennt das Mannschaftsbild von Rayon Sports, seines Lieblingsklubs. Der aggressive Mann wird plötzlich milde, er möchte nur noch über Fußball reden. Schließlich gibt er Murangwa einige Tipps. Er solle Türen und Fenstervorhänge offen lassen, dann sehe das Haus leer aus. Eric Murangwa ist in Sicherheit, zumindest für eine Nacht.
»Das war Wahnsinn. Ich dachte, ich würde sterben«, sagt Murangwa. Das Interview fand vor einigen Wochen in seiner Wahlheimat London statt. Murangwa hatte gerade in einer Schule drei Stunden mit Jugendlichen über den Genozid diskutiert. Im Frühjahr 1994 wurden mindestens 800.000 Tutsi und moderate Hutu ermordet. Eric Murangwa wählt seine Worte behutsam. Der 44-Jährige hat müde Augen, doch er ist hochkonzentriert. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen für Konflikte zu sensibilisieren. Er möchte über das gesellschaftliche Klima sprechen, das den Massenmord in Ruanda erst möglich machte.
In der Schule, beim Arzt, in der Warteschlange: Eric Murangwa wächst mit dem Bewusstsein auf, dass er anders ist, weniger wert. Anfang der 90er Jahre ist er in der Mannschaft von Rayon Sports einer von drei Tutsi. Hutu-Soldaten zerren ihn mehrfach aus dem Bus, kontrollieren seine Sachen. Fans bewerfen ihn mit Flaschen, beschimpfen ihn als Schlange und Kakerlake. Funktionäre des eigenen Klubs verbreiten Lügen über ihn. Einmal verweigert Eric Murangwa ein Spiel in Gisenyi, dem Geburtsort des Staatspräsidenten Juvénal Habyarimana, zu gefährlich erscheint ihm die Hochburg der radikalen Hutu.
Ein Helfer, der andere tötete
Die Organisatoren des Genozids kommen aus Armee, Präsidentengarde, Polizei. Doch auch die Bevölkerung beteiligt sich: Lehrer töten ihre Schüler, Kinder ihre Onkel, Katholiken ihre Priester. »Unter Bekannten war man oft in größerer Gefahr als unter Fremden«, sagt Murangwa. »Meine Mitspieler kannten meine politische Haltung, sie hätten mich verraten können. Aber sie entschieden sich für die Vernunft und gegen den Wahnsinn.«
Es sind Hutu-Teamkollegen, die für Murangwa Verstecke organisieren, Lebensmittel besorgen, Polizisten schmieren. Mehrfach befreit sich Murangwa aus bedrohlichen Situationen, weil die Mörder in ihm ein Vorbild aus dem Fußball sehen. Für einige Tage kommt er bei Jean-Marie »Zuzu« Mudahinyuka unter, einem ehemaligen Funktionär von Rayon Sports. Sie essen gemeinsam, spielen Karten, reden über Fußball. Später erfährt Murangwa, dass Zuzu lebenslang ins Gefängnis muss, für die Morde an mehreren Tutsi. »Die Welt war nicht schwarz und weiß«, sagt Murangwa. »Es gab Menschen, die andere quälten und umbrachten. Doch dieselben Menschen retteten am nächsten Tag anderen das Leben. Es war eine unbegreifliche Zeit.«
Hass im Fußball
Die Katastrophe passierte nicht über Nacht. Jahrzehntelang war Ruanda ein Land der Konflikte. Das spiegelte sich auch im Fußball wider. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestattete die belgische Kolonialmacht dem ruandischen König die Gründung eines Klubs, so konnte er eine größere Nähe zur Bevölkerung herstellen. »Fußball war das ideale Werkzeug für Kommunikation. Und viele Gruppen haben das genutzt«, erzählt der frühere Journalist Jules Karangwa, der für den Fußballverband Ruandas tätig ist.
Nach der Unabhängigkeit des Landes 1962 schlossen sich viele der zunehmend unterdrückten Tutsi in Mannschaften zusammen. Es war eine seltene Möglichkeit, um sich in Gruppen zu treffen, höhere Bildung und gute Jobs waren ihnen versperrt. Der 1972 gegründete Fußballverband und die Klubs der ersten Liga wurden oft von Mitgliedern der Hutu-Staatspartei MRND bestimmt. »Die Tutsi sollten überall an den Rand gedrängt werden«, sagt Jules Karangwa. »Der Nationaltrainer erhielt die Anordnung, Hutu-Spieler zu bevorzugen.« Eine treibende Kraft für die wachsende Gewalt gegen Tutsi war die Interahamwe. Diese paramilitärische Organisation rekrutierte junge Kämpfer auch auf Bolzplätzen und Tribünen. Jules Karangwa: »Während des Genozids wurden Menschen auch in Stadien inhaftiert und getötet. Es gab sogar Fußballer, die ermordeten ihre Mitspieler.«
In den Monaten nach dem Völkermord stemmen sich Überlebende gegen Seuchen und Massenarbeitslosigkeit. Allein aus dem Familienkreis des Torhüters Eric Murangwa starben 30 Menschen. Doch er zwingt sich nach vorn zu schauen, geht auf die Suche nach alten Mitspielern und findet fünf - von insgesamt 30. Mit anderen Kickern treffen sie sich zum Training, und schon vier Monate später trifft sein Verein Rayon Sports in einem Spiel auf den Rivalen Kiyovu Sports. »Es war das erste unpolitische Großereignis nach dem Genozid«, sagt Murangwa. »Es kamen 20.000 Zuschauer, endlich war da wieder etwas Lebensfreude.« Die neue Regierung, die Ruandische Patriotische Front (RPF), nutzt Fußball zur Versöhnung, mit Gedenkturnieren und Freundschaftsspielen. Eric Murangwa wird zum Kapitän des neuen Nationalteams ernannt. Auf Auswärtsreisen geht er auf ruandische Exilanten zu und bittet sie um Hilfe für den Wiederaufbau.
Ein wichtiger Ort für Vergangenheit und Zukunft des ruandischen Fußballs ist das Stadion Nyamirambo in der Hauptstadt Kigali, umgeben von einer belebten Straße mit Friseursalons und Getränkeshops. 1998 wurden im Nyamirambo Verantwortliche des Völkermordes öffentlich hingerichtet. 2007 wurde die Todesstrafe abgeschafft, seitdem gilt das Stadion als Ort des Vergnügens, zum Beispiel als Heimstätte des APR FC, des landesweit erfolgreichsten Vereins.
Rund 2000 Zuschauer verteilen sich bei einem Heimspiel auf den blauen, gelben und grünen Sitzen. Trommler und Trompeter haben ihre Gesichter in den Vereinsfarben schwarz und weiß geschminkt. Der Klubname APR steht für Armée Patriotique Rwandaise. »Unser Verein ist eng mit dem Freiheitskampf verbunden«, sagt General Mubaraka Muganga, einer der Vizepräsidenten des APR FC. Während des Bürgerkrieges Anfang der 90er Jahre, der in den Genozid mündete, spielten Kämpfer der Tutsi-Rebellenarmee auch Fußball. Daraus erwuchs der APR FC. »So kamen wir auf andere Gedanken und schöpften Mut«, sagt Mubaraka Muganga. »Manchmal gelang es uns, durch Fußball neue Kräfte zu rekrutieren.« Bis heute hat APR 17 mal die Meisterschaft gewonnen.
Versöhnen und wachsen
Mehr als 25 Jahre nach dem Genozid belegt Ruanda im Weltbank-Index für wirtschaftsfreundliche Staaten Platz 38 - vor etlichen europäischen. Ohne natürliche Ressourcen und Zugang zum Meer möchte der autoritäre Staatspräsident Paul Kagame das Land für Investoren und Großveranstaltungen öffnen. In Kigali haben sich Banken und Start-ups niedergelassen, auch gehobene Hotels. 2016 wurde ein modernes Kongresszentrum fertiggestellt. Nicht weit davon entfernt liegt das neue Hauptgebäude des Fußballverbandes. Dort arbeitet Jules Karangwa, geboren im Jahr vor dem Genozid. Er hat sich früh mit der Geschichte beschäftigt. »Das kollektive Trauma in unserem Land sitzt tief«, sagt Karangwa. »Aber das lockere Umfeld des Sports hilft uns, ins Gespräch zu kommen.«
Ruanda wird so bald keine Großmacht im Fußball sein, die Gesellschaft hat ganz andere Probleme. Doch der Verband veranstaltet regionale und internationale Turniere, besonders im Nachwuchs. 2011 qualifizierte sich die U17-Auswahl für die Weltmeisterschaft in Mexiko, alle Spieler sind nach dem Völkermord geboren. 2018 traf sich der Fifa-Rat in Kigali. »Mit jeder weiteren Veranstaltung erfährt die Welt, dass wir optimistisch nach vorne schauen«, sagt Karangwa.
Am 10. März ist Ronny Blaschkes Buch »Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution« erschienen. Der Journalist und Autor hat auf vier Kontinenten zu Fußball zwischen Propaganda und Protest recherchiert.
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