- Berlin
- Coronavirus
Gefangen in der Masse
Flüchtlings- und Obdachloseninitiativen fordern die Auflösung von Sammelunterkünften und Wohnungen für alle
»Sie sind da eingesperrt. Sie dürfen nicht rein- und rausgehen«, sagt eine Stimme im Hintergrund, während die Kamera auf einige Container hinter einem Zaun schwenkt. Vor zwei Wochen seien die Geflüchteten aus verschiedenen Unterkünften in das Lager in Neukölln gebracht worden, erzählt Bewohner Jaafar al Ahmed weiter. »Soweit ich weiß, haben sie keinen Coronavirus, hatten aber Kontakt zu Leuten die Corona haben.« Die Situation im Camp sei angespannt, Informationen nur spärlich vorhanden. »Ich hab Angst um meine Gesundheit«, sagt der Geflüchtete.
Ähnlich geht es zurzeit vielen Menschen in Sammelunterkünften. »Wir haben eine Bestätigung bekommen, dass wir unter Quarantäne sind. Sonst informiert uns niemand. Wir sehen nur, dass immer wieder kranke Menschen hierhin gebracht werden«, erzählt ein Bewohner eines Flüchtlingslegers in Treptow-Köpenick, das komplett unter Quarantäne gestellt wurde. Wie lange, wissen die Bewohner*innen nicht. »Ich habe Angst um meine Arbeit«, sagt er.
Für Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin ein unhaltbarer Zustand. »Die Massenquarantäne führt zu massiver Panik unter den Bewohnern«, sagt er am Mittwoch bei einer gemeinsamen Online-Pressekonferenz von Geflüchteten- und Wohnungsloseninitiativen. »Die Menschen haben Angst, sich dort gegenseitig zu infizieren und unter Dauerquarantäne gestellt zu werden.« Nicht ohne Grund: Zehntausende Menschen leben in Berlin in Geflüchteten- oder Obdachlosenunterkünften auf engstem Raum zusammen. Das in der Coronakrise so wichtige Abstandhalten ist in Mehrbettzimmern, Gemeinschaftsbädern oder -küchen jedoch nur schwer möglich.
Auch die Tausenden Menschen, die in Berlin auf der Straße leben, können sich kaum vor dem Virus schützen. Die Organisationen fordern daher die Auflösung von Massenunterkünften und eine dezentrale Unterbringung. »In den Unterkünften für Wohnungslose ist weder der Schutz der Gäste noch der Mitarbeiter möglich«, sagt Martin Parlow vom AK Wohnungsnot. »Wohnungslose Menschen müssen einzeln untergebracht werden, um sie zu schützen, etwa in Hotels«, sagt auch Stefan Schneider von der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen.
Platz dafür gebe es genug: Fast alle 150 000 Betten in den 800 Hotels in Berlin stünden leer, hinzu kämen zahlreiche Ferienwohnungen oder Businessappartments. »Würden frei werdende und neue Wohnungen des Landes Berlin sowie Sozialwohnungen zuerst denen gegeben, die keine Wohnung haben, hätten wir in zwei Jahren keine Wohnungslosen mehr«, meint Georg Classen.
Wozu es führen kann, wenn verängstigte Menschen auf engem Raum eingesperrt werden, hatte sich in der Nacht zu Dienstag in Marzahn gezeigt. Eine unter Quarantäne stehende Sammelunterkunft war dort nach einem Brandalarm von der Polizei geräumt worden. Dabei sollen die Bewohner*innen Widerstand geleistet haben, woraufhin 43 Polizist*innen vorsorglich unter Quarantäne gestellt wurden, die mittlerweile wieder aufgehoben wurde.
Der Flüchtlingsrat macht dafür die Politik verantwortlich: Einfach die Polizei vor die Tür zu stellen, um Menschen gegen ihren Willen für 14 Tage oder länger einzusperren, »ist ein klar rechtswidriger Freiheitsentzug, der hier zur Eskalation der Konflikte beigetragen haben dürfte«.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.