Rojava hilft sich selbst

Die Region benötigt dringend internationale Unterstützung.

  • Anita Starosta
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie schon so oft in der Vergangenheit ist der Kurdische Rote Halbmond in Nordostsyrien in einer Krisensituation auf sich allein gestellt. Trotz zahlreicher Hilfsappelle an UN und WHO ist bis zum jetzigen Zeitpunkt keine internationale Hilfe eingetroffen. Dabei geht es um Unterstützung, um sich medizinisch für den Ernstfall mit Coronatests, Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten zu rüsten.

Nun organisieren also die Mitarbeiter*innen vom Halbmond und die verantwortlichen Behörden alles selbst. Ausgangssperren, Schließungen öffentlicher Gebäude, Desinfektionen und breit angelegte Aufklärungskampagnen laufen schon an. Auch werden für die zu erwartenden mittelschweren Fälle eigens Krankenhäuser eingerichtet, und eigene Corona-Notfallteams sind im Einsatz. Intensivpflege hingegen ist äußert schwierig, in der gesamten Region gibt es nur 30 Beatmungsgeräte – damit kommt ein Gerät auf 100 000 Personen. Aber auch daran wird gearbeitet: Es gibt Versuche, behelfsmäßige Beatmungsgeräte herzustellen, während die versprochene Lieferung der WHO weiter auf sich warten lässt. Eine eigene Schutzmaskenproduktion ist ebenfalls angelaufen. Freiwillige haben sich in Shehba – dort leben seit Frühjahr 2018 Flüchtlinge aus Afrin – zusammengefunden und nähen fleißig.

Anita Starosta
Anita Starosta arbeitet bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international zu den Ländern Türkei, Nordsyrien und Irak. Sie hat die Region und die im Text beschriebenen Flüchtlingslager zuletzt im Februar dieses Jahres besucht. Medico international unterstützt seit vielen Jahren in Rojava den Kurdischen Roten Halbmond beim Aufbau eines neuen Gesundheitssystems.

Sollte es jedoch zu einem großflächigen Corona-Ausbruch kommen, bedeutet dies in der Region eine humanitäre Katastrophe. Darin sind sich die örtlichen Partner von medico international einig. Sie verweisen auf die besonders schwierige Lage in den überfüllten Flüchtlingslagern. Dort ist es unmöglich, Abstandsregeln einzuhalten. Alle Altersgruppen leben auf engstem Raum zusammen, viele Menschen sind sowieso krank oder aufgrund der hygienischen Bedingungen anfällig für Krankheiten. Seit der letzten Militäroperation der Türkei im Oktober müssen mindestens weitere 80 000 Vertriebene versorgt werden – in Camps oder provisorischen Unterkünften.

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Hinzu kommen Zehntausende ausländische IS-Anhängerinnen mit ihren Kindern sowie inhaftierte Kämpfer. Seit gut einem Jahr bitten die Selbstverwaltung und auch die lokalen Helfer*innen um dringende internationale Unterstützung bei der Versorgung, bei der Strafverfolgung, Deradikalisierung und bei Rückholungen von ausländischen Staatsangehörigen – so gut wie nichts ist seitdem passiert. Die Selbstverwaltung wird mit dieser Bürde alleingelassen. In Krisensituationen wie diesen kommt es immer wieder zu Aufständen von Gefangenen, zuletzt in einem Gefängnis in Hasakeh. Es ist nicht auszuschließen, dass der IS davon profitieren wird.

In Syrien sind bisher wenige Covid-19-Fälle offiziell bestätigt, aber niemand traut den offiziellen Zahlen des Assad-Regimes. Und in Rojava? Es kann dort nicht getestet werden, also werden alle Menschen mit Symptomen in Hausquarantäne geschickt. Das betrifft bislang Hunderte. Die PCR-Geräte, mit denen Tests auf das Virus durchgeführt werden können, befinden sich im Krankenhaus in Serêkaniyê (Ras al-Ain) im Nordosten Syriens, das unter türkischer Besatzung steht.

Auch die Wasserversorgung für knapp 500 000 Bewohner*innen in der Region Hasakeh wird immer wieder von den türkischen Söldnertruppen gekappt. In Zeiten, in denen Händewaschen und Hygiene überlebenswichtig sein können, ist dies ein klares Signal. Ungestört kann die Türkei Provokationen fortsetzen. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) schlossen sich schon vor zwei Wochen dem Aufruf des UN-Generalsekratärs António Gueterres zu einer weltweiten humanitären Waffenruhe wegen der Corona-Pandemie an. Leider folgte weder das türkische noch das syrische und auch nicht das russische Militär.

In den neun Jahren des syrischen Bürgerkriegs sind zahlreiche Krankenhäuser durch militärische Angriffe von Syrien und Russland, aber auch der Türkei zerstört worden. Humanitäre und medizinische Helfer*innen sind immer wieder Ziel von Angriffen geworden und mussten unter den widrigsten Kriegsbedingungen arbeiten. Millionen interne Vertriebene leben in Camps, informellen Ansiedlungen oder schlicht unter freiem Himmel. Ein Pandemieausbruch hätte für Zehntausende vermutlich tödliche Folgen. Angemessene Prävention und ausreichende medizinische Ausstattung sind dringend erforderlich und bedürfen sofortiger internationaler Unterstützung.

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