Vor den nächsten Pandemien

Infektionskrankheiten sind zurück im globalen Norden. Statt Prävention betreiben Regierungen Notfallpolitik

  • Irene Poczka
  • Lesedauer: 6 Min.

Zum ersten Mal seit Langem ist Europa Hotspot einer Pandemie. Etwas scheinbar Undenkbares ist Realität. Denn Infektionskrankheiten galten über weite Strecken des 20. Jahrhunderts als Problem der »Anderen«, des globalen Südens. Selbst HIV, Ebola, Schweinegrippe und Sars hatten daran wenig geändert. Tatsächlich aber war die historische Ausnahme, was wir für normal hielten. Nur von etwa 1950 bis 1990 - also vor dem Fall des »Eisernen« beziehungsweise »Bambus-Vorhangs« - waren auch Fachkreise überzeugt, dass der medizinische Fortschritt dieses Thema für »uns« erledigt habe. Das Interesse an dem Thema und an bestimmten Krankheiten wie Malaria, Cholera und Tuberkulose schwand, je mehr diese Krankheiten aufhörten, ein Problem wohlhabender westlicher Staaten zu sein.

Doch seit den späteren 80er Jahren kamen in den einschlägigen Wissenschaften Zweifel am »Sieg« über die Seuchen auf. Erste Warnungen vor neuen oder wieder vermehrt auftretenden Infektionskrankheiten - »new emerging and reemerging infectious diseases« - gingen um. Prominentes Beispiel für dieses neue Problembewusstsein ist der Molekularbiologe, Genetiker und Nobelpreisträger Joshua Lederberg.

Bei einem Abendessen 1988 soll Lederberg seinen Kollegen Stephen Morse ermuntert haben, für mehr Interesse an dem Thema zu werben. Daraufhin organisierte Morse 1989 - vor dem Hintergrund der HIV-Aids-Pandemie mit breiter Unterstützung - die Konferenz »Emerging Viruses: The Evolution of Viral Disease« in Washington. Die Tagung hob die »ökologische« Dimension von Infektionskrankheiten hervor: Lösungsansätze, die sich nach dem Motto »one bug, one drug« - also »ein Erreger, ein Medikament« auf einzelne Pathogene konzentrierten, müssten ergänzt werden: Nötig sei ein umfassendes Verständnis der komplexen Bedingungen von Infektionskrankheiten.

Dazu gehörten prominent die Eigenschaften des Wirts, der Transfer von Erregern in neue Populationen, menschengemachte Veränderungen der Umwelt, während die Mutationen der Mikroorganismen selbst eher zweitrangig seien.

Die 1992 abgehaltene, von Lederberg mit geleitete Konferenz des Institute of Medicine zum Thema »Emerging Infections: Microbial Threats to Health in the United States« war die Geburtsstunde eines sich von nun an entfaltenden Bedrohungsdiskurses. Ab Mitte der 90er Jahre griffen dann auch in Deutschland Fachgesellschaften, Forschungsinstitute und Politik das Thema auf. Das alte Bundesseuchengesetz wurde unter der Annahme einer neuen Vulnerabilität zu jenem Infektionsschutzgesetz umgestaltet, das wir heute praktisch kennenlernen. Die Einschätzung, Infektionskrankheiten seien Vergangenheit, wurde ihrerseits ad acta gelegt.

Nun konnte von neuartigen Bedrohungen nur aus der Perspektive des Nordens die Rede sein; andernorts hatten Infektionskrankheiten nie aufgehört, ein Problem zu sein. Doch indem man dieselben nun als ökologische Phänomene des Anthropozäns verstand, konnten sie - ähnlich wie die Erderhitzung - als globales Problem gerahmt werden. So entstand zumindest theoretisch die Möglichkeit eines gemeinsamen, vielleicht solidarischeren Ansatzes.

Diese als neu wahrgenommene Bedrohung sorgte in Medizin und »Public Health« für ein wachsendes Interesse an Seuchengeschichte und setzte Planungen für einen Ernstfall in Gang - für den die Influenza als prominenteste Kandidatin galt. Ab dem Ende der 90er Jahren wurde in den USA an einem ersten nationalen Plan zur Pandemie-Vorbereitung (»Pandemic Preparedness«) gearbeitet.

Nach 9/11 und den Anthrax-Briefanschlägen von 2001 in den USA vermischten sich diese Pandemiepläne indes mit Programmen zum Umgang mit jeglicher Art von biologischer Bedrohung. Pandemien und Epidemien wurden in dieser Zeit auch über die USA hinaus zum Thema nationaler Sicherheit. In dieser von den Interessen westlicher Akteure bestimmten Diskussion gewannen reaktive Sicherungsbestrebungen den Vorrang. Ansätze der Prävention hingegen, etwa durch den Ausbau solider medizinischer Infrastrukturen, gerieten eher ins Hintertreffen.

Wie der Mensch zu neuen Viren kam
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Als Katalysator wirkte die Sars-Pandemie von 2002/2003. Sie machte deutlich, wie schlecht Gesundheitseinrichtungen weltweit auf eine Pandemie vorbereitet waren. Nach Sars bekräftigte die WHO die Notwendigkeit nationaler Pandemiepläne. Danach endlich, zwischen 2005 und 2009, entwickelte der Großteil etwa auch der EU-Staaten solche Szenarien. Während man auf der einen Seite an Strategien für den gesundheitlichen Ausnahmezustand tüftelte, wurde nach der Finanzkrise 2008 die Gesundheitsinfrastruktur besonders in den stärker von der Krise betroffenen Ländern Südeuropas regelrecht kaputt gespart.

Immer wieder stand der Pandemie-Fall in diesen Jahren kurz bevor: 2009 deklarierte die WHO angesichts der sich ausbreitenden »Schweinegrippe« zum ersten Mal eine »Gesundheitliche Notlage mit internationaler Tragweite« - das Signal für die Umsetzung der nationalen Pandemiepläne. Doch das Virus erwies sich schließlich als relativ harmlos. Im August 2014 lag nach Ansicht der WHO mit der befürchteten weltweiten Verbreitung des Ebola-Virus erneut ein solcher Notfall vor. Doch die Eindämmung der wenigen Fälle außerhalb des Epizentrums der Epidemie in Westafrika stellte sich auch hier als verhältnismäßig kleines Problem heraus. Erst jetzt wird sich zeigen, was etwa jene europäischen, von den »European Centers for Disease Control and Prevention« begleiteten Planungen taugen, die bisher nur Theorie waren.

Der Feind sind wir

Deutlich wird aber bereits jetzt, dass die politischen Strategien und Rhetoriken die aktuelle Pandemie weiterhin als sicherheitspolitischen Not- und Ausnahmefall behandeln. Angesichts des Virus - dem Feind - formieren sich die nationalen Schicksalsgemeinschaften - die bereitwillig ihre Opferbereitschaft bekunden. Immer wieder wird sich heute von Vietnam über Frankreich bis in die USA fleißig der Kriegsmetaphorik bedient, um den Ausnahmecharakter der Situation zu unterstreichen. Trotz einiger symbolischer Akte der Unterstützung gegenüber Frankreich und Italien ist bisher von Seiten Deutschlands selbst, innerhalb der EU überhaupt, nur wenig von der Solidarität zu spüren, die in nationalen Pandemieplänen so prominent hervorgehoben wird.

So wird deutlich, dass die Mission, die sich unter anderem der 2008 verstorbene Joshua Lederberg Ende der 80er Jahre gab, nur in einem sehr schlechten Sinne erfüllt ist. Der Satz von Walt Kellys Comicfigur Pogo, »we have met the enemy and he is us« - wir haben den Feind getroffen und der Feind sind wir - ist mittlerweile zu einem Stehsatz in der Forschung zu neuen Infektionskrankheiten geworden.

Die Pandemie, die wir gerade erleben, ist eine Begleiterscheinung einer Globalisierung, von der insgesamt die Länder des Nordens am stärksten profitiert haben. Zu den Existenzbedingungen dieser und auch der kommenden Pandemien zählen »unser« Vordringen in immer entlegenere ökologische Räume, zählen Klimawandel, Zunahme des Reiseverkehrs und internationale Verflechtungen bei der Lebensmittelversorgung ebenso wie das Wachstum infektionsgefährdeter Bevölkerungsgruppen wie Intensivpatienten (siehe nebenstehenden Beitrag).

Solidarität - nicht nur in Europa, sondern global - in einem umfassenderen Sinne wäre eine angemessenere Reaktion. Nicht im Sinne eines vereinten Kampfes gegen die Mikroben, sondern in dem Bewusstsein einer geteilten und gemeinsam fabrizierten Welt. Es kann nicht nur darum gehen, jeweils möglichst schnell Medikamente zu entwickeln, die dann möglichst barrierefrei weltweit zur Verfügung zu stellen sind. Sondern auch darum, Gesundheitssysteme zu fördern und aufzubauen, deren Ressourcen und Kapazitäten darauf ausgerichtet sind, dass der jetzt erlebte »Ausnahmefall« in gewisser Weise die neue Normalität darstellen könnte.

Die Politologin Dr. phil. Irene Poczka, geb. 1981 in Westberlin, forscht an der Uni Tübingen im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin zur Geschichte von gesundheitlicher Prävention und Seuchenbekämpfung. Im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs der Deutschen Forschungsgemeinschaft bearbeitet sie derzeit das Teilprojekt »Resistente Mikroben: Die Bedrohung und Neuordnung der ›Medizinischen Ordnung‹ durch Antibiotikaresistenzen seit den 1990er Jahren«.

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