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Gewehre und Gebete
Boliviens Rechtsregierung droht in der Coronakrise mit Einsatz des Militärs und hofft auf Beistand von oben
»Die Hausaufgaben kommen über die WhatsApp-Gruppe der Mamas, heute waren es Satzkonstruktionen«, erklärt Daniela Orellana. Die alleinerziehende Mutter bekommt jetzt die Schulaufgaben ihrer zehnjährigen Tochter via Messenger auf ihr Handy. Die Regierung hat am 12. März alle Schulen in Bolivien schließen lassen. »Wegen Corona«, sagt die 30-Jährige und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seit dem 26. März sind nicht nur die Schulen und Universitäten dicht, sondern es herrscht generell eine Ausgangssperre. Nur zum Einkaufen und wenn es unbedingt notwendig ist, darf man das Haus verlassen. Für Daniela Orellana ist es nicht nur deswegen eine schwierige Situation, weil sie nun ihre Tochter im Haus hat. Mit ihrer Schwester und ihrer Mutter betreibt sie einen kleinen Laden. »Momentan kaufen die Leute fast nichts mehr, nur noch Brot«, meint sie, »auch ansonsten ist es gerade schwer, wegen der Ausgangssperre Geld zu verdienen.« Wie ihr geht es vielen: Geschätzt über 60 Prozent der Bolivianer*innen verdienen ihre Brötchen im informellen Sektor, auf Märkten, im Taxi oder als Minibusfahrer.
Die Ausgangssperre stößt nicht nur auf Verständnis. In den Randbezirken von El Alto kam es bereits zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und aufgebrachten Marktbesucher*innen. Im Norden, im Beni, kam es bereits zu Hungerprotesten, weil nach Tagen ausbleibender Einnahmen kein Geld mehr für Lebensmittel da ist. Auch in Bolivien ist das Coronavirus inzwischen Thema Nr. 1, auch wenn die Fallzahlen noch relativ gering sind. Alle wissen, dass sich das schnell ändern kann, Vertrauen in das Gesundheitssystem gibt es kaum, und selbst die De-facto-Präsidentin Jeanine Añez empfahl ihren Landsleuten zu beten. Es sei »die stärkste Waffe, die das Land hat«, ließ Añez in einer Fernsehansprache verlauten.
In der Bergbaustadt Oruro, die bisher die meisten bestätigten Infizierten hat, gab es bereits zwei Wochen früher eine lokale Ausgangssperre. Auch die nicht zur Freude aller Bewohner*innen. Aufgrund von Protesten musste sich die Polizei aus einigen Stadtteilen zurückziehen, die Leute halten sich nicht überall an die Ausgangssperre. Arturo Murillo, Innenminister der De-facto-Regierung, rief die Präsidentin Añez dazu auf, für die Gebiete, deren Bewohner sich nicht an die Ausgangssperre halten, den Ausnahmezustand zu verhängen und mit dem Militär gegen die Uneinsichtigen vorzugehen. Das Dekret zu den Ausgangsbeschränkungen enthält auch eine Einschränkung der Meinungsfreiheit; Human Rights Watch kritisierte die De-facto-Regierung dafür vergangene Woche heftig.
Innenminister Arturo Murillo kommt die Pandemie zupass. Das Thema Ausnahmezustand hatte der Hardliner im Kabinett von Añez auch schon vor der Coronakrise immer wieder ins Spiel gebracht. Die Konflikte, die es seit dem Sturz von Präsident Evo Morales im November 2019 gibt, würde er am liebsten - so scheint es - mit dem Militär lösen. Bisher konnte Murillo sich innerhalb der Regierung damit nur teilweise durchsetzen, mit Corona scheint er eine neue Chance zu wittern.
Murillo wird zusammen mit dem Verteidigungsminister Fernando López für das Massaker im November vergangenen Jahres in Senkata verantwortlich gemacht. Damals starben im Kugelhagel mindestens zehn Menschen, als Polizei und Militär aus dem blockierten El Alto Benzin aus einem Treibstofflager in Senkata für den benachbarten Regierungssitz La Paz abtransportieren wollten.
»Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen wirklich an diesem Tag ums Leben kamen«, meint Orellana, die sich für die Opfer engagiert. »Direkt nach dem Massaker gab es viele, die verzweifelt Angehörige suchten, es gingen allerhand Geschichten um.« Augenzeugen berichteten, wie Polizisten Leichen verschwinden ließen, darunter soll auch ein zwölfjähriges Mädchen gewesen sein. Andere Familien brachten ihre toten Angehörigen, so wird berichtet, auf die Dörfer und ließen sie nicht obduzieren.
Bis zu 25 Menschen könnten in Senkata ums Leben gekommen sein. Dazu kamen jede Menge Verletzte, bis zu 100, meint Orellana. Sie hat einige begleitet, wie Terroristen seien sie behandelt worden. »In einigen Krankenhäusern wollte man sie nicht behandeln, in anderen ließ man sie in der Einfahrt der Notaufnahme liegen«, berichtet sie. Fast überall mussten sie die Rechnungen sofort begleichen. Beweise, wie Arztbriefe über die Art der Verletzung oder die Projektile wurden ihnen nicht ausgehändigt. »Viele haben sich deswegen erst gar nicht behandeln lassen«, meint die Unterstützerin. Auch andere berichten von Drohungen. »Es gibt Verletzte, die damals zufällig dort vorbeigegangen waren und angeschossen wurden. Als sie ins Krankenhaus gingen, um sich behandeln zu lassen, sagte man ihnen, sie seien Terroristen, sie hätten das Treibstofflager in die Luft sprengen wollen«.
Inzwischen hat sich die Situation etwas verändert. Mithilfe von Anwälten und der »Permanenten Versammlung für die Menschenrechte« aus El Alto konnte zumindest erreicht werden, dass sie die Behandlungskosten erstattet bekommen. Die De-facto-Regierung versucht, das Massaker aus der Welt zu schaffen. Dabei droht sie, nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, auf der einen Seite denjenigen, die öffentlich über das Massaker reden, mit Verhaftung. Auf der anderen Seite wird versucht, die Familien der Opfer mit Geldangeboten zu locken. Jüngst hat sie das Entschädigungsangebot an die Familien von 50 000 auf 100 000 Bolivianos (13 500 Euro) erhöht. »Das führt zu Streit, denn es gibt Familien, die das Angebot annehmen wollen. Andere sagen, dass sich das Leben ihrer Angehörigen nicht durch Geld aufwiegen lässt«, sagt Daniela Orellana. Die Regierung verlangt als Gegenleistung, dass die Angehörigen nicht vor Gericht ziehen.
Murillo und sein Ministerkollege López behaupten immer noch, dass die Sicherheitskräfte keinen Schuss abgefeuert haben. Einer parlamentarischen Befragung haben sie sich bisher verweigert. Die plurinationale Versammlung hat daraufhin Verteidigungsminister López das Misstrauen ausgesprochen, was laut Verfassung dazu führt, dass er entlassen werden muss. Das hat De-facto-Präsidentin Añez auch getan, ihn aber am selben Tag erneut zum Verteidigungsminister ernannt.
»Durch die Ereignisse im November hat sich die Büchse der Pandora geöffnet«, meint der Queer-Aktivist César Antezana. »Es haben ein unglaublicher Rechtsruck und eine Militarisierung der Politik stattgefunden.« Auch er sitzt wegen Covid-19 zu Hause und muss seinen zwei Töchtern Schulstoff vermitteln. Vor ein paar Wochen erzählte er − noch kettenrauchend, gekleidet in Minirock und mit High Heels − auf einer Party: »Es gab den Versuch eine linke Partei zu gründen, als die Bewegung zum Sozialismus (MAS) nach rechts abdriftete. Aktivisten aus dem Gewerkschaftsdachverband COB wollten das, aber dann haben MAS-treue Funktionäre das unterbunden.« Im Prinzip sei das Problem, dass »die MAS in den vergangenen Jahren versucht hat, alle linken Basisbewegungen zu kooptieren. In vielen Organisationen gibt es heute zwei Vorsitzende und einen tiefen Riss zwischen Gegnern und Befürwortern der MAS.« Das sei auch ein Grund, warum viele Linke Evo Morales und der MAS heute kritisch gegenüber stehen.
Antezana sieht die MAS ambivalent: »Auf der einen Seite ist es richtig, dass die MAS-Regierung bis heute für einen laizistischen Staat und für die Pluralität Boliviens steht und damit auch für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender; auf der anderen Seite hat die MAS bereits 2009 eine konservative Wende gemacht.« Im Rahmen der Verfassunggebenden Versammlung gab es damals zu Beginn auch Beschlüsse, die Homo-Ehe zuzulassen, eine weitreichende Autonomie für Indígenas in der Verfassung zu verankern und den Landbesitz zu beschränken. »In der Verfassunggebenden Versammlung in Oruro waren die Beschlüsse noch da, später bei der Versammlung in Sucre, fehlte beispielsweise die Homo-Ehe.« Morales sei damals mit der konservativen Elite in Santa Cruz ein unausgesprochenes Bündnis eingegangen, ihre Privilegien wurden nicht angetastet und dafür unterstützten die Großgrundbesitzer die Separationsbestrebungen nicht mehr. »Die jetzige Regierung ist klar christlich orientiert und will viele Reformen zurückdrehen«, meint er. »Dass sie das kann, dafür ist die MAS auch mitverantwortlich.« Es sei die Abkehr von der Orientierung an den sozialen Bewegungen gewesen, meint der Queer-Aktivist weiter. Diese führten 2011 zum größten Bruch mit Teilen der Basis, als die indigene Bevölkerung des Naturparks TIPNIS zu Protesten aufrief. Der Grund: Die MAS-Regierung wollte dort eine Überlandstraße gegen den Willen und die Autonomie der lokalen Bevölkerung bauen.
Viele solidarisierten sich mit den indigenen Bewohner*innen des TIPNIS, auch die städtische Mittelschicht. Es kam zu einem Marsch auf La Paz und die Regierung Morales musste zurückrudern. Ein Teil der jungen städtischen Wählerschicht kehrte hier Morales den Rücken zu, so auch Anthony Pérez. Der junge Ingenieur war zwar nie überzeugter MAS-Anhänger, hatte aber gleichwohl »mal für die MAS gestimmt«, wie er meint. »Jetzt sollte die MAS auf gar keinen Fall mehr an die Macht kommen«, meint Pérez. »Sie war zu lange an der Regierung und wurde am Ende zu korrupt.« Deswegen, so der junge Ingenieur, sei ein Regierungswechsel notwendig. Es waren Leute wie Anthony Pérez, die im Oktober auf die Straße gingen und den Rücktritt von Morales forderten und letztlich den Ausgangspunkt für den vom Militär erzwungenen Rücktritt von Morales bildeten. Zwar ist er mit der jetzigen Regierung auch nicht einverstanden, »aber sie ist immer noch besser als die MAS an der Regierung«.
Es kann gut sein, dass die jetzige Regierung noch eine Weile an der Macht bleibt. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde der Wahltermin vom 3. Mai verschoben. Allerdings birgt die Coronakrise auch erhebliche Risiken für die aktuelle Regierung: Sollte die Epidemie in Bolivien außer Kontrolle geraten, könnte auch ihre Macht schnell erodieren.
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