»Wir wollen kein Krisen-Abi!«

Ab Montag finden in Berlins Schulen Abiturprüfungen statt. Schüler*innen, Gewerkschaften und Politiker*innen äußern etliche Bedenken.

  • Mascha Malburg
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Berliner Schüler*innen schreiben ihr Abitur in der Krise, ab Montag finden die ersten schriftlichen Prüfungen in den Schulen statt. Das bestätigte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Donnerstagmorgen im Inforadio des »rbb«. Der Beschluss schürt große Bedenken bei den Berliner Schüler*innen und spaltet die rot-rot-grüne Koalition. Deutschlandweit hat die Entscheidung der Kultusministerkonferenz für Diskussionen gesorgt. Abiturient*innen und Schüler*innen, die in diesem Jahr den mittleren Schulabschluss (MSA) oder andere Abschlüsse absolvieren, sollen ihre Prüfungen trotz Pandemie ablegen.

Bereits am Dienstag bekräftigte Berlins Bürgermeister Michael Müller die Umsetzung der Abitur- und MSA-Prüfungen nach den Osterferien. Für Schüler*innen, deren Eltern zu Risikogruppen gehörten, solle es Nachschreibetermine geben, außerdem müssten die entsprechenden Hygiene- und Abstandsregeln strikt eingehalten werden, erklärte der SPD-Politiker im »rbb«.

»Wir fühlen uns nicht gehört von den Politikern und sind zutiefst enttäuscht«, sagt Malak, die nächste Woche an einem Berliner Gymnasium ihr Abitur schreiben soll. Malaks Schule liegt in einem armen Bezirk, ein Großteil ihrer Mitschüler*innen kommt aus benachteiligten Familien. In ihrem Jahrgang gäbe es viele, die sich in dem Lärm und der Enge zu Hause nur schlecht auf die Prüfungen vorbereiten könnten, erzählt Malak. Sie hätten nicht dieselben Lernbedingungen wie die Jahrgänge zuvor, klagt sie: »Wir können uns nicht in Bibliotheken zurückziehen, wir haben keinen Zugang zu Büchern und konnten auch nicht zusammen für die Prüfungen lernen oder die Präsentation durchproben«. Sie und ihre Mitschüler*innen finden es ungerecht, dass die Prüfungen nun stattfinden sollen. Viele Familien würden sich außerdem Sorgen um eine mögliche Ansteckung machen, erzählt sie. »Wir möchten unser Abitur auf sicherem Wege bekommen, wenn kein Virus in der Luft ist, ein normales Abitur, das derzeit leider einfach nicht möglich ist!«, sagte sie dem »nd«.

Johanna, die sich derzeit im Berliner Norden auf ihr Abitur vorbereitet, betont, wie unsicher sie sich fühle. »Wir wussten in den letzten Wochen überhaupt nicht, was los ist, wir bekommen kaum Informationen aus der Schule und fühlen uns allein gelassen«, sagte sie dem »nd«. In etlichen Chatgruppen würden momentan panisch Nachrichten ausgetauscht, erzählt die Abiturientin. Das belaste alle.

Der Berliner Landesschülerausschuss (LSA) kämpft seit Wochen dafür, eine Alternative zu den regulären Prüfungen zu finden. Das diese trotz allem Protest nun durchgezogen werden, kann LSA-Referentin Luisa Regel nicht verstehen: »Diese Abiturprüfungen garantieren keinerlei Chancengleichheit und stellen für Schüler und deren Familien eine große gesundheitliche und psychische Belastung dar«, sagte die Schülerin gegenüber dem »nd«. »Die Situation gerade ist mehr als unübersichtlich und ein geregelter Informationsaustausch wird derzeit nicht gewährleistet. Schüler*innen und Schulen werden hilflos zurück gelassen.«

Der Vorstandsvorsitzende des LSA, Miguel Góngora, setzte sich bis zuletzt für eine Abi-Prüfung auf freiwilliger Basis ein. Wer die Prüfungen nicht schreiben könne oder wolle, sollte ein Durchschnittsabitur anerkannt bekommen, forderte er in diversen Medien. Gegenüber dem »nd« äußerte er heute seine Enttäuschung von der Berliner Politik: »Von den Linken hätten wir uns in der Senatssitzung einen größeren Einsatz gewünscht. Und die Grünen haben sich klar gegen die Berliner Schülerschaft und fast alle Schulbesuchspersonen gestellt. Dieses Handeln wird auf seine Grenzen stoßen, denn bald dürfen wir alle wählen«, so Góngora

Berlins Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Tom Erdmann, zeigte sich ebenfalls kritisch: »Die Bedingungen in den Schulen und in den Familien sind äußerst unterschiedlich. Die Ungleichheiten konnten nicht kompensiert werden«, stellte er gegenüber »nd« fest. Die jetzt getroffene Zwischenlösung sei zudem widersinnig: Es ergäbe keinen Sinn, an einem Tag Tausende Schüler auf einmal auf die Straße zu bringen.

Die Berliner Linke schloss sich am Mittwoch den Bedenken der Schüler*innen und Gewerkschaften an und stellte sich gegen ihren Koalitionspartner: »In dieser Situation müssen wir dafür sorgen, dass sich bestehende Ungerechtigkeiten im Bildungssystem nicht infolge der Corona-Krise noch weiter verschärfen«, mahnte die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Regina Kittler. Sie fordere daher die Kultusministerkonferenz auf, die Prüfungen auszusetzen. Die Abiturnoten sollten aus den Leistungen der letzten vier Semester der gymnasialen Oberstufe berechnet werden, schlug Kittler im Berliner Abgeordnetenhaus vor. Für den MSA und die Berufsbildungsreife könnte eine Anerkennung auf der Basis der erbrachten Leistungen im 10. Schuljahr erfolgen.

Selbst die Berliner SPD scheint gespalten: Die SPD-Vize-Landesvorsitzende Iris Spranger stärkte am Mittwoch auf Twitter dem Landesschülerausschuss den Rücken: »Ich setze mich derzeit in vielen Gesprächen dafür ein! Gut, dass Ihr so klar Euren Standpunkt vertretet!«, schrieb Spranger.

Auch der Berliner Landeselternausschuss teilte die vielfach geäußerten Sorgen der Schüler*innen. Aus der Pandemie-Situation dürfte den Schüler*innen kein Nachteil entstehen, mahnten sie in einem offenen Brief am Ostersonntag. Würden die Prüfungsergebnisse schlechter ausfallen als in den Vorjahren, bräuchte es Regelungen, wie damit umgegangen werde. Die Eltern forderten außerdem, die Einzellösungen für Schüler*innen, die selbst zur Risikogruppen gehörten auf die Schüler*innen auszuweiten, deren Familienangehörige ebenfalls zu Risikogruppen gezählt würden.

Die Berliner Schulleiter kritisieren unterdessen die Entscheidung, neben den Prüfungen auch den Unterricht wieder schrittweise aufzunehmen. »Beides gleichzeitig ist im Augenblick nicht zu machen«, erklärte der Leiter einer Oberschule in Berlin- Charlottenburg. (»nd«berichtete)

Deutschlandweit äußerten Schüler*innen, Eltern, Politiker*innen, Lehrkräfte und Gewerkschaften Bedenken an den Prüfungen in der Krise. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) setzten sich am Dienstag dafür ein, jetzt auf Abitur, MSA und ersten Bildungsabschluss zu verzichten und darauf zu vertrauen, dass die Lehrkräfte aufgrund der bereits erbrachten Leistungen gerechte Abschlussnoten erteilen. Viele Schüler*innen könnten sich während der Kontaktbeschränkungen nicht gut auf die Prüfungen vorbereiten, erklärte DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann. »Die Corona-Krise erschwert vielen Schülerinnen und Schüler das Lernen. Nicht alle können während der Schulschließung digitale Lernmöglichkeiten nutzen, in vielen Haushalten gibt es nicht genügend PCs, Laptops oder Tablets. Oft sind die Wohnbedingungen auf Grund der sozialen Situation der Eltern zu schlecht, um ein lernfreundliches Klima zu ermöglichen. Manche leben zu beengt oder in psychisch belastenden Situationen.« Das verschärfe die Ungerechtigkeit, der in der Schule hätte entgegengewirkt werden können.

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