Schwärmer, Heiliger, Jakobiner

Friedrich Hölderlin in den ideologischen Kriegen des 20. Jahrhunderts

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Er war nun voll des Abschieds. Er habe lange nicht geweint, schrieb Friedrich Hölderlin am 4. Dezember 1801 an Casimir Ulrich Böhlendorff. »Aber es hat mich bittre Thränen, gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vielleicht auf immer … Aber sie können mich nicht brauchen.« Kurz darauf brach er in Nürtingen auf, um in Bordeaux eine Stelle als Hauslehrer anzutreten.

Vor ihm lagen fast 600 Kilometer. Hölderlin absolvierte sie großenteils zu Fuß, lief über Tübingen und dann durch den Hochschwarzwald, passierte die verschneiten Höhen der Auvergne, übernachtete im Freien, die geladene Pistole immer neben sich. Endlich, am Morgen des 28. Januar 1802, stand er vor dem klassizistisch eleganten Haus des Konsuls Meyer (wo heute eine Tafel an seinen Aufenthalt erinnert). Er blieb nicht lange. Mitte Mai brach er (warum, weiß man nicht) schon wieder auf und kehrte über Paris und Straßburg zurück, leichenblass, abgemagert, das Haar wirr, geistig zerrüttet.

Die zweite Hälfte seines Lebens, von 1807 bis zu seinem Tod 1843, hat Hölderlin, betreut von einem Schreinermeister und seiner Familie, in einem Tübinger Turmzimmer überm Neckar verbracht, ignoriert und verlacht, bewundert nur von den wenigen, die seinen Roman »Hyperion« und die paar Gedichte kannten, die in Almanachen gestanden hatten. Jetzt war er nur noch der Verrückte aus einem schwäbischen Pfarrhaus, der dichten und nicht predigen wollte, der sich, ständig gedemütigt, als Hauslehrer durchschlagen musste, der als Poet Anerkennung suchte, die er nicht fand, der in seinen Strophen bis an die Grenzen des Sagbaren ging.

Die Rufer in der Wüste, die auf ihn aufmerksam machten, waren Dichter, Wilhelm Waiblinger, Brentano, die Bettine, nicht zuletzt Gustav Schwab und Ludwig Uhland. Beide versammelten 1826 zum ersten Mal die verstreuten Verse sowie Fragmente des »Empedokles« in einem Bändchen des Verlages Cotta. Dann, 1839, ein Aufsatz Georg Herweghs. Er feierte Hölderlin, der ja noch in seiner Stube auf- und ablief, als einen Dichter der Zeit. Gehört hat ihn niemand.

Ein Fremder ist Friedrich Hölderlin im Grunde noch immer, einer, der uns ferngerückt ist, wie sein Biograf Rüdiger Safranski sagt. Mit ihm beschäftigen sich hauptsächlich Wissenschaftler in gelehrten Untersuchungen. Aber das war schon einmal anders.

Es ist 50 Jahre her. Damals, 1969, kurz vor dem 200. Geburtstag des Dichters, erschien in der Edition Suhrkamp ein schmales Bändchen mit dem Titel »Hölderlin und die Französische Revolution«, verfasst vom Franzosen Pierre Bertaux, ein Buch wie ein Fenster, durch das endlich frische Luft dringt. Es bereitete allem Gemurmel über den welten- und zeitenfernen Klassiker ein Ende.

Hölderlin, hatte der Philosoph Eduard Spranger behauptet, sei ein »schönheitstrunkener Schwärmer« gewesen, eine der zarten Seelen, die das Politische von sich schoben, weil sie fürchteten, »daran innerlich unrein zu werden«. Bertaux widerlegte solche Ansichten, indem er den Dichter mitten in die politischen Kämpfe seiner Tage stellte, mitten in den Kreis junger Männer, die in Süddeutschland eine Republik nach französischem Vorbild schaffen wollten.

Hölderlin, entdeckt erst um 1900 vom Kreis um Stefan George, von dessen Schüler Norbert von Hellingrath 1916 endlich auch mit seinem Spätwerk erschlossen, von den Nazis als Vaterlandsbeschwörer missbraucht, dann wieder der Literaturwissenschaft überlassen und im Meinungsgestöber der Experten fast unsichtbar geworden, war plötzlich, leidenschaftlich diskutiert, der Star, der alle Autoren der klassischen Ära überstrahlte, auch Goethe, auch Büchner.

Bertaux hatte ihn auf den Boden der Realitäten gestellt, und siehe da: Der scheinbar so Entrückte, in die Götterwelt Versunkene erwies sich als ein Geist, der seine Schmerzen, seine Verzweiflung über die versteinerten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in ergreifende Verse gebannt hat, etwa in der Elegie »Brot und Wein«: »Indessen dünket mir öfters / Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, / So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, / Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?«

Bertaux’ Büchlein hatte Folgen. Peter Weiss schrieb 1971 sein in West und Ost erfolgreiches Stück »Hölderlin«, das mit einem Besuch des jungen Karl Marx beim Dichter im Turmzimmer endet. Peter Härtling schuf 1976 mit seinem Roman »Hölderlin« einen Bestseller, weil er den Dichter, ohne ihn zu idealisieren oder zu banalisieren, fassbar machte. Und ein Mann, der nicht mal ein Abitur hatte und nie in einem germanistischen Seminar saß, D. E. Sattler, forderte die Editionswissenschaft heraus, indem er 1975 eine historisch-kritische Werkausgabe im Folioformat startete, die ungewohnte Wege ging. Sie erschien, schon das war Programm, im Verlag Roter Stern (später Stroemfeld-Verlag) und konstruierte keine »endgültigen« Fassungen aus Bruchstücken und Entwürfen, sondern griff konsequent auf das zurück, was Hölderlin geschrieben hatte, druckte erst die (schwer entzifferbare) Handschrift und daneben die Transkription, schließlich die Lesefassung.

Der Affront war nicht zu übersehen. Es gab ja schon eine historisch-kritische Edition, 1943 begonnen und 1985 abgeschlossen, die Große Stuttgarter Ausgabe, die maßgebliche Werkpräsentation seit Langem. Sattler argumentierte, man habe die Texte immer geglättet, den Dichter nie beim Wort genommen, nie den Scheiternden gezeigt, den Ringenden, den die Umstände würgten und erdrückten. Stattdessen habe man aus den vielen Entwürfen und Fragmenten immer ein Ganzes formen wollen. Die politischen Intentionen seiner Arbeit waren nicht zu übersehen. Der Behauptungskampf dauerte Jahre und endete mit Sattlers Triumph. 2008 war seine Ausgabe fertig.

Karl-Heinz Ott, Romanautor und Essayist, hat jetzt in seinem eindringlichen Buch »Hölderlins Geister« vom Nachleben des lange Ignorierten erzählt. Wie er, schon von Hellingrath zum »deutschesten Dichter« erkoren, in die Weltanschauungskriege des 20. Jahrhunderts geriet, mal Prophet, Heiliger oder Idylliker, mal mystisch verdunkelt, mal Schützengrabenlektüre für Hitlers Soldaten, schließlich Jakobiner und, wie Bertaux 1978 in seinem umfangreichen Hauptwerk »Friedrich Hölderlin« nachzuweisen suchte, ein Simulant, der seinen Wahnsinn aus Furcht vor politischer Verfolgung nur vortäuschte. Die These, kaum zu halten und wie entfesselt debattiert, hat dazu geführt, dass kaum noch bemerkt wurde, was für ein großartiges, inspirierendes Buch da entstanden war.

Freilich: Ott redet länger über Heideggers Raunen als über die Impulse, die von Bertaux und seinem leidenschaftlichen Kampf für Hölderlin ausgingen. An den Arbeiten, die in der DDR erschienen, geht er ganz vorbei. Kein Wort über Stephan Hermlins Hörspiel »Scardanelli« von 1971, Gerhard Wolfs Collage »Der arme Hölderlin« von 1972 oder Günter Mieths 1978 veröffentlichtes Buch »Friedrich Hölderlin. Dichter der bürgerlich-demokratischen Revolution«.

Acht Jahre zuvor hatte der Leipziger Germanist schon im Aufbau-Verlag seine verdienstvolle Werk- und Briefedition in vier Bänden vorgelegt. Sie ist, übernommen von Carl Hanser in München und der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt, auch in der Bundesrepublik lange die vollständigste und bestkommentierte Lese- und Studienausgabe gewesen.

Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister, Carl Hanser, 239 S., geb., 22 €.

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