- Berlin
- Berlin
Solidaritätskonzerte in Coronazeiten
Berliner Künstlerpaar spielt Livemusik für Bewohner eines Seniorenwohnhauses
Drei Jungs, um die sieben, acht Jahre alt, haben sich die besten Plätze gesichert: Sie sitzen auf einem Müllkasten vor der Rückseite des Seniorenwohnhauses im Hausburgviertel, um die Ecke vom Friedrichshainer Bersarinplatz, nebeneinander wie die Hühner auf der Stange und rufen: »Konzert, Konzert!« Ein Konzert zu Coronazeiten?
Doch, es stimmt, gleich gibt es hier eins – aber es findet in erster Linie für die älteren Bewohner*innen des vierstöckigen Gebäudes statt. Einige von denen haben sich schon auf ihren Balkonen eingefunden. Das Seniorenwohnhaus ist kein Pflegeheim im klassischen Sinne – hier wohnen alte Menschen eigenständig in kleinen Wohnungen, können aber zugleich auf Angebote des Sozialverbands zurückgreifen.
»Normalerweise ist hier jeden Tag etwas los«, sagt Ines Schmidt-Wergifosse. Sie ist die Organisatorin der unmittelbar bevorstehenden Veranstaltung. »Kaffeetrinken, Gedächtnistraining, Spieleabend – das findet jetzt alles nicht mehr statt«, erzählt die agile Frau. Ihre 92-jährige Mutter lebt im ersten Stock des Hauses.
Mit einer Maske vor Mund und Nase kommt diese auf ein kurzes Hallo herunter und begrüßt Tochter und Schwiegersohn. Aus ihrem Wohnzimmer wurde das Stromkabel verlegt, mit dem das Berliner Duo Felice und Cortez Young in wenigen Minuten seine Mikrofone und Verstärker für Gitarre und Schlagzeug versorgen wird. »Geh mal wieder hoch, Mutti, gleich geht’s los«, schickt Schmidt-Wergifosse die alte Dame zurück auf ihren Balkon. Sie trägt ebenfalls eine Textilmaske und signalisiert: Auch wenn ich mich hier für eine Veranstaltung engagiere, an der unter den gegebenen Umständen mehr als eine Handvoll Menschen teilhaben wollen und sollen, nehme ich das Infektionsrisiko ernst.
Die Nachmittagssonne strahlt, die noch jungen Bäume, die hier im Innenhof gepflanzt sind, spenden recht wenig Schatten. Das von der Caritas-Altenhilfe betriebene Haus nimmt nur eine Seite des Hofes ein, in den anderen Gebäuden des Anfang der 2000er Jahre entstandenen Quartiers befinden sich vorwiegend teure Eigentumswohnungen. Auch an deren Türen klebt eine Einladung zum »Hinterhofkonzert« des jungen Musikerpaars unter dem Motto »Fenster auf, Freude rein!«. Viele Kinder, die wegen der coronabedingten Schul- und Kindergartenschließungen zu Hause bleiben müssen, kommen deshalb neugierig in den Hof, die meisten begleitet von einem Elternteil, das darauf achtet, dass sie sich nicht zu nah zu anderen Zuschauer*innen auf den Rasen oder den Gehweg setzen.
Die Kinder und die Senior*innen haben zwei Dinge gemeinsam: Ausgerechnet an dem Ort, an dem sie in der Regel häufig zusammentreffen, dürfen sie sich zurzeit nicht mehr zu nahe kommen. Intergenerationelle Begegnungen, die sonst als Garant für die Entwicklung von Sensibilität und Verständnis für sehr weit voneinander entfernte Altersgruppen gelten, sind nur mit deutlichem Abstand möglich. Den Alten wie den ganz Jungen fehlt es gleichermaßen an Spaß und Unterhaltung: Was den einen die Spieleabende in der Gruppe sind, ist den anderen natürlich das gemeinsame Toben und Schaukeln auf dem Spielplatz des Hofes.
Aber an diesem Mittwochnachmittag ist das für eine Dreiviertelstunde fast vergessen. Denn Felice und Cortez Young haben ein Programm mitgebracht, das zwischen Zirkusartistik und Rockkonzert, poetischen Geschichten und Puppentheater oszilliert und damit trotz des Abstands alle Aufmerksamkeit einfängt. Ob als Ikarus verkleidet oder als tollpatschiger Schlagzeuger, in dessen Basedrum die Ratte Tom wohnt: Cortez Young sorgt für mal ernste, mal clowneske Einlagen, Felice begleitet ihn dazu auf der elektrisch verstärkten Westerngitarre und klingt dabei manchmal nicht ganz zufällig wie die US-amerikanische Rocksängerin Alanis Morissette, von der sie auch Songs covert.
Seit fast zehn Jahren treten die beiden Multitalente zusammen auf. Die Coronakrise hat ihnen nicht nur die Absage einer zweimonatigen Tournee durch den US-Bundesstaat Florida beschert, die wegen der Pandemie ausfallen musste, erklärt Cortez Young, sondern auch ein neues Konzept ihrer Darbietung: »Auf der Straße zu spielen, das kennen wir«, erklärt der 39-jährige Künstler. Aber im Umgang mit der Pandemie gewänne das eine vollkommen neue Qualität: »Wir können bei unseren Hinterhofkonzerten wenigstens Augenkontakt mit den Menschen aufnehmen.« Wohl auch deshalb sind sie aktuell sehr gefragt. »In dieser Woche spielen wir sieben Konzerte in Berlin«, erzählt Young. Unterschiedliche Leute würden sie als Privatpersonen einladen und in der Regel einen Teil der Gage zahlen – der Rest kommt aus dem Hut.
Auch von den Balkonen im Seniorenwohnhaus fliegen am Ende nach großem Applaus die in Papier gewickelten Scheine und Geldstücke. Bewohnerin Eleonore Krüger, ehemalige Apothekerin aus Magdeburg, hat sich für die Dauer der Vorstellung samt Maske und Sonnenhut auf einem Stuhl auf dem Rasen niedergelassen, daneben ihr Mann. Die beiden rüstigen Endsiebziger sind froh über das Erlebnis. »Das ist eine wirklich gute Idee«, finden die Krügers.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.