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Ein Mittel gegen »permanenten Frust«
Der Sozialwissenschaftler Gert G. Wagner über Scheinsicherheit bei der Rente und Mythen über die Arbeitgeberbeiträge
Viele Menschen mit niedrigen Gehältern haben längst die Hoffnung verloren, dass sie im Alter von der gesetzlichen Rente leben können. Tatsächlich erhalten sie oft nur einige Hundert Euro. Was kann die Politik tun, damit diese Menschen im Alter nicht in finanzielle Not geraten?
Ein nachhaltiger Schritt wäre, die Arbeitgeberbeiträge für Mindestlohnempfänger zu erhöhen. Menschen, die 45 Jahre in Vollzeit für den Mindestlohn gearbeitet haben, sollten im Alter mehr als die Grundsicherung erhalten. Wir reden hier von ungefähr einem Euro pro Stunde, den die Arbeitgeber mehr zahlen müssten, um einen Mindestbeitrag zu garantieren.
Gert G. Wagner (67) lebt in Berlin und ist Fellow am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Bis 2018 lehrte er als Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin. Er ist Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung und war Mitglied der Rentenkommission »Verlässlicher Generationenvertrag«, die kürzlich ihre Vorschläge an die Bundesregierung überreicht hat.
Wagner war 2011 bis 2017 im Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Zuvor hat er dort viele Jahre die Längsschnittstudie Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) geleitet, der er noch heute als Senior Fellow verbunden ist. Für das SOEP werden seit 1984 jährlich mehrere Zehntausend Haushalte zu ihren wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnissen befragt. Weltweit nutzen derzeit rund 500 Forschergruppen diese Daten.
Eva Roth und Jana Frielinghaus haben mit Gert Wagner über auskömmliche Renten gesprochen - und darüber, woher das Geld dafür kommen könnte.
Warum sollte das nur für Beschäftigte gelten, die den Mindestlohn erhalten?
Weil man nur hier sicherstellen kann, dass die Arbeitgeber den einen Euro tatsächlich zusätzlich zahlen. Der Brutto-Mindestlohn ist gesetzlich festgelegt. Die Unternehmen könnten den Zusatzbeitrag also nicht mit dem bisherigen Gehalt verrechnen, was zu einer Kürzung des Nettolohns führen würde.
Und was ist mit den Millionen anderen Geringverdienenden? Haben Sie in der Rentenkommission darüber diskutiert, wie die im Alter besser vor Armut geschützt werden können?
Die meisten Geringverdiener sind im Alter nicht arm, da sie auch andere Einkünfte in ihrem Haushalt haben. Aber wir haben in der Tat nicht nur über Altersarmut geredet, sondern auch Modelle durchgerechnet. Zum Beispiel dieses: Für untere Einkommen wird ein Rentenniveau von 48 Prozent garantiert. Bei höheren Gehältern wäre das Rentenniveau niedriger. Hier gäbe es lediglich einen Inflationsausgleich, das heißt, die Altersbezüge stiegen jedes Jahr nur so stark wie die Verbraucherpreise.
Wieso hat die Kommission das dann nicht vorgeschlagen?
Das wäre international zwar nicht unüblich, aber es wäre in Deutschland ein Bruch mit dem bisherigen System. Um derart unkonventionelle, für Deutschland geradezu revolutionäre Vorschläge zu machen, ist eine Regierungskommission mit schmaler Mehrheit im Parlament überfordert. Ich würde mir wünschen, dass darüber nach Corona breit diskutiert wird.
Derzeit wird stattdessen über eine Verschiebung der Grundrente diskutiert. Sollte sie nach Ihrer Ansicht wie geplant ab Januar 2021 eingeführt werde?
Ja, es geht hierbei um Respekt vor Lebensleistung bei geringem Lohn. Wenn es verwaltungsmäßig nicht anders geht, kann sie deswegen auch rückwirkend ausgezahlt werden.
Statt unkonventionelle Vorschläge zu machen, empfiehlt die Kommission, dass das Rentenniveau nach 2025 bei 44 bis 49 Prozent liegen sollte. 44 Prozent würden bedeuten, dass das Niveau weiter sinkt. Das ist nun wirklich nichts Neues.
Dieser Empfehlung sieht man von weitem an, dass wir uns in diesem Punkt nicht einigen konnten. Die Kommission hat aber einen anderen Vorschlag gemacht, den ich extrem wichtig finde und der bisher überhaupt nicht diskutiert worden ist: Künftig soll der Abstand zwischen Grundsicherung und Eckrente angegeben werden. Das wäre ein Riesenfortschritt.
Sicher? Ich würde eher vermuten, dass das auf einen Basisschutz hinausläuft: Wenn die Eckrente, also die Altersbezüge eines Menschen mit Durchschnittseinkommen und 45 Berufsjahren, ein bisschen höher ist als die Sozialhilfe, sollen die Leute zufrieden sein.
Darum geht es der Kommission gerade nicht, vielmehr soll es einen nennenswerten Abstand geben zwischen Rente und Grundsicherung. So wird das ja diskutiert - und künftig wird das auch so sein.
Was ist ein nennenswerter Abstand?
Das kann ich nicht sagen. Es gibt keine »richtige« Rentenhöhe, die wissenschaftlich begründbar wäre. Wie groß der Abstand sein sollte, ist das Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen. Darum finde ich diesen Indikator ja so gut, weil er das permanent adressieren würde. 2019 hatten Menschen im Rentenalter, die auf Grundsicherung angewiesen sind, Anspruch auf durchschnittlich rund 810 Euro im Monat. Die sogenannte Eckrente für langjährig versicherte Durchschnittsverdiener lag im September 2019 bei etwa 1450 Euro. Sie lag damit bei etwa 180 Prozent des Bedarfs von durchschnittlichen Grundsicherungsempfängern. Angenommen, der Wert sänke auf vielleicht 150 Prozent. Dann wird das ein Politikum sein, und es wird eine Debatte darüber geben, welche Rentenhöhe angemessen ist - selbst dann, wenn die Armutsquote von Rentnern nicht gestiegen sein sollte.
Sie persönlich plädieren dafür, dass insbesondere Geringverdiener im Alter bessergestellt werden. In nächster Zeit könnte es allerdings schwierig werden, höhere Renten durchzusetzen. Wegen der Pandemie sinkt die Wirtschaftsleistung und die Verschuldung des Staats steigt. Woher könnte das Geld für höhere Altersbezüge kommen? Sollten Spitzenverdiener auf ihr gesamtes Einkommen Rentenbeiträge zahlen?
Unabhängig von Corona ist das so in der Schweiz. Dort sind allerdings die Steuern für Reiche sehr niedrig. Ich vermute, dass die Reichen mit dieser Regelung zufrieden sind.
Hängt das eine zwingend mit dem anderen zusammen?
Theoretisch nicht, aber in der Wirklichkeit. Wenn wir die Beitragsbemessungsgrenze in Deutschland abschaffen würden, wird sofort die Forderung aufkommen, dass Gutverdiener steuerlich entlastet werden müssen. Davon auszugehen, dass diese Debatte nicht käme, halte ich für politisch naiv.
Aber beteiligen sich denn Spitzenverdiener mit Spitzengehältern und hohen Kapitaleinkommen ausreichend an der Finanzierung der Alterssicherung? Diese Frage wird in der deutschen Debatte ja meist ausgeblendet. Stattdessen wird der Eindruck vermittelt, es gehe um einen Generationenkonflikt, also darum, dass die Jungen für die Alten zahlen müssen.
Finanziell Bessergestellte beteiligen sich jedenfalls in hohem Maße, und zwar über ihre Steuern: Der Bundeszuschuss aus Steuermitteln macht derzeit etwa 30 Prozent der Einnahmen der Rentenversicherung aus. Natürlich kann man trotzdem darüber streiten, ob man Personen mit hohen Erwerbs- oder Kapitaleinkünften stärker besteuert. Als Privatmensch bin ich der Meinung, man kann und sollte das machen. Als Wissenschaftler kann ich dazu nicht viel sagen, außer: Die Erfahrung lehrt, dass höhere Spitzensteuersätze nicht dazu führen, dass plötzlich alle Bezieher hoher Einkommen auswandern. Trotzdem warne ich davor, Gutverdiener mit Steuern noch stärker an der Rentenversicherung zu beteiligen.
Wieso?
Stellen Sie sich vor, der Bundeszuschuss würde auf über 50 Prozent steigen. Das hieße: Über 50 Prozent der ausgezahlten Renten würden mit Steuermitteln finanziert. Solange die Zeiten gut sind, wäre das kein Problem. Aber wenn eine Rezession käme, würden die Renten ruckzuck gekürzt.
Wie kommen Sie darauf?
Das lehrt die Erfahrung. Das steuerfinanzierte BAföG wurde in Krisenzeiten knapper bemessen. Und die steuerfinanzierten Hartz-IV-Sätze sind von Anfang an sehr knapp kalkuliert worden, viele sagen: zu knapp. Auch das Bundesverfassungsgericht hat ja einige Sanktionen als zu rigide verworfen.
Ist die aktuelle Debatte über die Verschiebung der - steuerfinanzierten - Grundrente ebenfalls ein Beispiel dafür?
Ja, genau. Wobei Corona auch dazu genutzt wird - wenn man ehrlich ist - das ganze Vorhaben in Frage zu stellen. Ein viel höherer Bundeszuschuss würde uns ständig solche Debatten bescheren.
Aber warum kürzt die Politik eher Sozialleistungen, wenn sie aus Steuermitteln finanziert sind?
Für steuerfinanzierte Leistungen gibt es keinerlei Eigentumsschutz; das ist bei Beitragsfinanzierung aber dem Grunde nach der Fall. Und die beitragsfinanzierten Sozialversicherungen haben eine über 100-jährige Tradition und sind deshalb stabiler als Umverteilung über Steuern.
Könnte die deutsche Politik dann dem Beispiel Österreichs folgen? Dort sind die Rentenbeiträge höher, darum erhalten alte Menschen deutlich mehr Geld als hierzulande.
Die Frage ist auch hier, welchen Preis man dafür bezahlen würde. In Österreich sind die gesamten Sozialbeiträge - für Renten, Gesundheit, Pflege und Arbeitslosigkeit - etwa so hoch wie in Deutschland. Warum? Weil die Pflege und ein großer Teil der Gesundheitsleistungen steuerfinanziert sind. Man kann das so machen. Aber hier gilt wieder: Wenn es eng wird, ist alles, was steuerfinanziert ist, anfällig für Kürzungen. Ich weiß nicht, ob ich in Deutschland eine größtenteils steuerfinanzierte Gesundheitsversorgung und Pflege wollen würde; schauen Sie nach Großbritannien mit seinem schlechten steuerfinanzierten nationalen Gesundheitsdienst.
Wie sollte dann eine auskömmliche Rente finanziert werden?
Man könnte zum Beispiel den Niedriglohnsektor eindämmen. Höhere Gehälter bedeuten höhere Beiträge und später höhere Renten. Leider sind die Gewerkschaften aber nicht mehr stark genug. Deswegen könnte man die Unternehmen gesetzlich verpflichten, eine kapitalgedeckte Zusatzversorgung anzubieten. Die Beschäftigten könnten dann entscheiden, ob sie das machen oder nicht. Wie der Arbeitgeberzuschuss aussieht, darüber würde ich mir erst mal keine Gedanken machen.
Ihnen ist es egal, ob die Beschäftigten oder die Unternehmen zahlen?
Nein. Es ist aber eine Illusion anzunehmen, dass man die Arbeitgeber verpflichten kann, die zusätzliche Altersvorsorge aus eigener Tasche zu bezahlen. Es ist ja auch ein Irrglaube, dass die Arbeitgeber die Hälfte der Sozialbeiträge aus eigener Tasche zahlen würden.
Also auf meinem Gehaltszettel steht, dass der Verlag die Hälfte des Rentenbeitrags abführt.
Ja, klar. Für ein Unternehmen kommt es aber ausschließlich auf die gesamten Arbeitskosten an, und die bestehen aus Bruttolöhnen und Sozialbeiträgen. Wenn die Sozialabgaben stark steigen, sagen die Arbeitgeber in der nächsten Tarifrunde: Wir müssen hier mehr zahlen, deswegen können die Löhne nicht so stark steigen.
Sie meinen: Höhere Sozialabgaben der Unternehmen müssen von Gewerkschaften genauso erkämpft werden wie höhere Bruttolöhne?
Genau. Für Unternehmen ist entscheidend, wie viel Euro sie für eine Arbeitsstunde zahlen. Für sie ist es bei der Gewinnermittlung gleichgültig, ob 100 Euro an die Beschäftigten fließen oder an die Rentenkasse. Insofern ist es auch irreführend, von Lohnnebenkosten zu sprechen. Das sind alles Arbeitskosten.
Aber warum plädieren Sie trotz der katastrophal schlechten Erfahrungen mit der Riester-Rente für eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge?
Weil man nicht alle Eier in einen Korb legen sollte. Bei der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente werden die Beiträge der Beschäftigten sofort an die Rentner ausgezahlt, praktisch nichts wird angespart. Ich halte es für sinnvoll, daneben Geld für die Altersvorsorge anzulegen, damit die Menschen von der Wertentwicklung an den Kapitalmärkten profitieren. Aus den Fehlern der Riester-Rente kann man ja lernen. Man könnte zum Beispiel Standardprodukte anbieten, dann entfallen die wahnsinnig hohen Kosten der Riester-Rente - das bringt die Kommission ja auch mit Nachdruck ins Gespräch. Die Politik müsste den Rentenfonds auch erlauben, mehr Aktien zu kaufen. Denn die Renditen der Riesterprodukte sind auch deshalb besonders niedrig, weil nur in besonders sichere Anlagen investiert werden darf.
Wenn es nach der Kommission geht, müsste noch öfter als bisher über die Rente gestritten werden. Sie plädiert dafür, das Rentenniveau nur für sieben Jahre festzulegen. Damit wäre die Rente noch öfter unter Druck.
Wieso? Keine einzige Rentenformel hat bislang 20 Jahre unverändert gegolten. Solange die Politik ewige Gültigkeit verspricht, vermittelt sie nur eine Scheinsicherheit und permanenten Frust. Die Kommission plädiert deshalb dafür, das Rentenniveau jeweils nur für sieben Jahre festzulegen, also etwa 2023 für den Zeitraum zwischen 2026 und 2033. Soweit kann man planen, das wäre ehrlich. Und ein Alterssicherungsbeirat soll verpflichtet werden, Vorschläge vorzulegen, so dass die Politik sich nicht wegducken kann - auch nicht im Hinblick auf die Entwicklung der Altersgrenze.
Über die Altersgrenze müssen wir ein anderes Mal diskutieren. Mit Ihrer Sieben-Jahres-Festlegung sagen Sie jedenfalls jungen Menschen: Der Sozialstaat kann euch nichts versprechen. Wenn ihr Pech habt, seid ihr im Alter arm, wenn ihr Glück habt, nicht.
Das ist nirgendwo auf der Welt anders. Es gibt keine absolute Sicherheit. Die Politik kann keine realen Versprechen für das Jahr 2040 machen - Lebensversicherungen übrigens auch nicht! Was wir wissen: Das System der umlagefinanzierten Rente existiert seit 1957 und ist bisher ziemlich stabil. Es ist naiv anzunehmen, dass man Leistungen des Sozialstaats für immer und ewig festzurren kann, und dann ist Ruhe im Karton.
Das ist eine permanente politische Auseinandersetzung, insbesondere auch im Hinblick auf Vermeidung von Armut. Denn auch ein hohes Rentenniveau verhindert keineswegs automatisch Altersarmut. Die Kommissionsvorschläge würden dazu führen, dass die Auseinandersetzungen offener geführt werden und dass es - auch dank des neuen Grundsicherungs-Indikators - schwieriger wird, das Thema Altersarmut auszuklammern.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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