Wiedersehen im Reinraum
Pflegeheime suchen für ihre Bewohner nach Kontaktmöglichkeiten trotz Besucherverbots
Die Folgen des Besuchsverbotes zeigen sich vor allem nachts. »Da ist große Unruhe im Haus«, sagt Sven Eisenhauer. Er leitet das Matthias-Claudius-Haus, ein Pflegeheim der Stadtmission Chemnitz, gelegen zwischen einem Einkaufszentrum und einem Wäldchen. Die Bewohner des Hauses dürfen dieses wegen der Corona-Pandemie aber schon seit März weder für Einkäufe noch Spaziergänge verlassen, und Besuche empfangen dürfen sie auch nicht. Nicht wenigen raubt das den Schlaf. Es sei, sagt Sozialarbeiterin Jana Rauch, »eine sehr traurige Situation«.
Dass Besuchssperren aus Sicht der Mediziner geboten ist - daran besteht kaum Zweifel. Die oft betagten Menschen, viele von ihnen mit verschiedenen Erkrankungen, gelten als Risikogruppe. Etwa jeder dritte der 151 Menschen, die in Sachsen nach einer Covid-19-Infektion gestorben sind, lebte in einem Pflegeheim. Allein in einem Heim in Zwönitz starben 14 Menschen. Die strikte Regelung sei »kein Selbstzweck«, sagt Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD). Rauch ergänzt: »Viele Bewohner verstehen das und sind dankbar, geschützt zu werden.«
Der Kopf freilich mag Ja sagen; das Herz folgt nicht immer. Oder wie es die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) formuliert: Das eine ist der Wille, die Situation zu ertragen. Er sei bei einer Generation, die oft den Krieg erlebt habe, stark ausgeprägt. »Das andere aber ist die Sehnsucht«, sagt Ludwig: danach, Kinder, Enkel und andere Angehörige von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihre Stimme nicht nur am Telefon zu hören. Vielen, sagt Jana Rauch, »fehlt die Berührung«.
Seniorenvertreter sprechen von einer dramatischen Lage. Die seit sechs Wochen geltenden Besuchs- und Ausgehverbote für Pflegeheime seien »mit Abstand der schwerste Eingriff in die Grundrechte in der aktuellen Corona-Situation«, heißt es in einer Erklärung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen. Sie warnt, das »erzwungene Alleinsein« stelle ebenfalls eine »erhebliche gesundheitliche Gefahr« für die Bewohner dar, und fordert in einer Stellungnahme die Politik auf, die »soziale Isolation« zu verringern. Ein »gewisses Maß« an Kontakten zu Angehörigen, heißt es nachdrücklich, »muss gewährleistet werden«.
Viele Heime entwickeln schon bisher einige Kreativität, um das zu ermöglichen. Die Bewohner des Matthias-Claudius-Hauses können Tablet-Computer nutzen, um per Videotelefonie mit Verwandten zu kommunizieren; manche trafen sich auch mit gebührendem Abstand am offenen Fenster oder am Balkon - was die Besuche aber wenig komfortabel und alles andere als privat verlaufen lässt.
Seit gut einer Woche gibt es nun eine bequemere Möglichkeit: drei sogenannte »Besuchsboxen«, die in der derzeit ungenutzten Cafeteria neben dem Haupteingang aufgestellt wurden. Es handelt sich um Doppelkabinen, die die Heimbewohner von einer und ihre Besucher von der anderen Seite betreten und in denen sie sich, durch eine Plexiglasscheibe getrennt, in geringer Entfernung unterhalten können. Auf einem kleinen Tisch, lobt die Ministerin, »stehen sogar Blumen«.
Ausgedacht hat sich die Boxen der Chemnitzer Unternehmer Hartmut Schäfer. Er führt unter anderem eine Firma für Messebau, die derzeit freilich keine Aufträge hat. Die Kabinen, die binnen zwei Wochen entworfen und gefertigt wurden, bestehen aus roten Kunststoffpaneelen; diese wiederum sind eingefasst mit Aluminiumprofilen, »wie sie sonst für Reinraumtechnik verwendet werden«, sagt Schäfer. »Da gibt es keine Luftspalte«, betont er - und also auch keine Möglichkeit, dass Viren aus der einen in die andere Kabine gelangen. Das Ministerium habe bestätigt, dass die Lösung von der geltenden Corona-Verfügung abgedeckt sei.
In den Boxen können sich Bewohner und Besucher nun näher kommen als bisher - auch wenn Berührungen weiter nicht möglich sind. Gewechselt wird im Stundentakt, wobei der Besuch 45 Minuten dauert und danach desinfiziert wird. Gewechselt wird in den jeweiligen Boxen nie zur gleichen Zeit, »damit sich auch die Besucher beim Warten nicht zu nahe kommen«, sagt Jana Rauch. Sie bespricht mit den Angehörigen vorab Details - und entscheidet mit ihnen auch, in welchen Fällen ein Gespräch in der Box nicht ratsam ist: »Manche demente Patienten würde es eher verwirren, wenn sie ihre Angehörigen nur hinter einer Scheibe sehen.«
Alle anderen aber sind begeistert; die Besuchstermine sind Tage voraus gut gebucht. Das Modell könnte also Schule machen - wenn die Finanzierung geklärt wäre. Eine Besuchsbox kostet 3000 bis 4000 Euro. »Das haben wir Heimleiter nicht in der Portokasse«, sagt Eisenhauer. Auch die Pflegekassen dürften die Kosten nicht übernehmen. Susanne Schaper, die in Chemnitz lebende Landeschefin der Linkspartei, fordert, die Anschaffung aus Corona-Hilfsmitteln der Staatsregierung zu fördern. Ministerin Köpping will sich nicht festlegen; bisher lägen keine entsprechenden Anträge vor. Sie fügt aber an: »Wir haben bisher alles getan, um zu helfen.«
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