Die Früchte und der Preis des Sieges
Ein historischer Exkurs zum »Großen Vaterländischen Krieg«
Anfang Juli 2019 erließ Russlands Präsident Wladimir Putin einen Ukas, der das Jahr 2020 zum »Jahr des Gedenkens und des Ruhmes« erklärte. Das Jubiläum sollte den Stolz der Bürgerinnen und Bürger Russlands auf ihre Heimat vertiefen, die moralische und politische Stabilität der Gesellschaft festigen und das internationale Prestige stärken. Corona scheint dies zu vereiteln.
Dennoch wird in Russland am Tag des Sieges, dem 9. Mai, der unzähligen Opfer des mit dem faschistischen deutschen Überfall am 22. Juni 1941 begonnenen »Großen Vaterländischen Krieges« gedacht, in dem es um die Existenz der Sowjetunion und um ihre Verteidigung ging, an der alle Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger aktiv mitzuwirken hatten. Stalin, Sekretär der kommunistischen Partei und Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, rief in einer Rundfunkrede am 3. Juli 1941 dazu auf, ganz ungewohnt adressiert an alle »Brüder und Schwestern« und »Freunde«.
Die Erwartungen der überraschten Menschen, den Aggressor dank der Stärke der Roten Armee rasch vernichtend schlagen zu können, erfüllten sich nicht. Bedingt durch die militärische Überlegenheit der deutschen Wehrmacht sowie Fehlkalkulationen Stalins und seiner Umgebung geriet das Land in katastrophale militärische Niederlagen mit riesigen Gebiets- und Bevölkerungsverlusten und unersetzbaren Einbußen an Menschen und Material.
Doch die Rote Armee leistete erbitterten Widerstand, wie in der Smolensker Schlacht (10. Juli bis 10. September 1941) und versetzte der Wehrmacht mehr und mehr empfindliche Schläge. »Wir lernten erst im Verlaufe des Krieges, die Deutschen zu schlagen, und das war ein langwieriger Prozess«, erinnerte sich Marschall Georgi Shukow. In der Abwehrschlacht vor Moskau von Oktober bis Dezember 1941 erkämpfte die Rote Armee ihren ersten großen Sieg. Die Blitzkriegsstrategie der Wehrmacht war gescheitert. Dieser Sieg hatte eine große politisch-moralische Ausstrahlung im ganzen Land und fand internationale Beachtung.
Am 28. Juli gebot Stalin als Oberbefehlshaber mit dem Befehl Nr. 227: »Keinen Schritt zurück!« Die deutschen Truppen konnten jedoch noch bis zur Wolga und in den Nordkaukasus vordringen, die ganze Ukraine wurde okkupiert. Schließlich brachte die 200 Tage und Nächte währende Stalingrader Schlacht von Juli 1942 bis Anfang Februar 1943 die Wende, festigte die Kampfmoral der Roten Armee und die Siegeszuversicht in der Bevölkerung und stärkte das Ansehen der Sowjetführung bei den Alliierten. Auch die Widerstandsbewegung in vielen Ländern fühlte sich ermutigt. Mit der Kursker Schlacht im Juli/August 1943, der größten Panzerschlacht, ging die strategische Initiative dauerhaft auf die Rote Armee über. Im Jahr darauf gelang die Befreiung der okkupierten Landesteile der UdSSR, die durch das NS-Terrorregime, Zwangsarbeiterverschleppung sowie zivilen Widerstand gegen die Aggressoren 13,7 Millionen Einwohner verloren hatten. Ein Teil der Bevölkerung hatte sich allerdings auch, aus unterschiedlichen Gründen und in verschiedener Weise, mit der Besatzungsmacht arrangiert, bis hin zur Kollaboration. Was bis heute als »Verrat an der Heimat« gilt.
Ab 1943 gelang die Befreiung von fast 60 Millionen Sowjetbürgern, Russen sowie - in der Mehrzahl - Nichtrussen: Ukrainer, Belorussen, Moldawier, Litauer, Letten, Esten, Juden und Angehörige anderer Nationalitäten. Sie gingen unter schwierigsten Bedingungen an den Wiederaufbau des ausgeraubten und zerstörten Landes und leisteten damit ihrerseits einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der Roten Armee - und zum Sieg. Neben den Fabrik- und Landarbeitern gehörten dazu die Wissenschaftler und Kulturschaffenden. »Alles für die Front« lautete die Losung. Beachtlich war auch der Beitrag der Gulag-Häftlinge und Zwangsverpflichteten der »Arbeitsarmee«, überwiegend deutscher Nationalität, für die Kriegsproduktion, in der Kohle- und Erdölförderung und Landwirtschaft.
In ihrem Kampf gegen den faschistischen Aggressor hatten die Völker der UdSSR die Antihitlerkoalition auf ihrer Seite. Die Zusammenarbeit der »Großen Drei«, Stalin, Churchill und Roosevelt, trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, ist von bleibendem Erfahrungswert. Die USA erwiesen mit umfangreichen Lieferungen im Rahmen des Land-lease-Programms der Roten Armee wirksame materielle Unterstützung. Kriegsentscheidend, wie behauptet wird, war dies indes nicht.
Die Rote Armee befreite in verlustreichen Schlachten Polen, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Albanien, die Tschechoslowakei und Österreich. Hunderttausende Sowjetsoldaten gaben dabei ihr Leben. Sie werden dort heute zumeist als »Okkupanten« verunglimpft, wie auch in Teilen Deutschlands nach dem Krieg, obwohl die Berliner Operation der Roten Armee, die am 2. Mai mit der Kapitulation der deutschen Hauptstadt endete, eine der größten Schlachten des Zweiten Weltkrieges war und das das Ende der faschistischen Barbarei in Europa besiegelte. Der Preis des Sieges: Die Sowjetunion verlor ein Drittel ihrer materiellen Werte und rund 27 Millionen Menschen, etwa zwölf Prozent der Bevölkerung. Der Krieg hinterließ Millionen Invaliden, Witwen, Waisen. Die Sowjetunion wurde eine Weltmacht, obwohl sie Jahre brauchte, um sich von den Kriegswunden zu erholen und der Bevölkerung einen gesicherten, wenn auch bescheidenen, Lebensstandard zu gewährleisten: die Früchte des Sieges.
»Wir sehen mit großer Besorgnis, dass antirussische Ressentiments und Russophobie in der deutschen Gesellschaft wiederaufleben und geschürt werden«, heißt es in der Erklärung des Vereins »Berliner Freunde der Völker Russlands e. V.« zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.
Prof. Horst Schützler, Jg. 1935, lehrte an der Humboldt-Universität Berlin.
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