- Politik
- 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs
»Ich hatte keine Angst vor den Russen«
Cornelia Schmalz-Jacobsen über die Befreiung 1945, deutsche Schuld und Verantwortung
Auf dem Darß, an der Ostsee, sind Ihnen erstmals leibhaftig Rotarmisten begegnet?
Ja. Meine Eltern haben mich zu Tante Maria und Onkel Friedel geschickt, weil Berlin 1943 bereits Ziel alliierter Bomber war. Sie entschlossen sich schweren Herzens, mich, ihre jüngste Tochter, ich war damals acht, in Sicherheit zu bringen.
Und Sie hatten keine Angst vor den »Russen«, in der NS-Propaganda als »Untermenschen« diffamiert?
Nein, überhaupt nicht. Onkel Friedel war kein Nazi, im Gegenteil, wie meine Eltern ein Gegner. Auf seinem Hof hatten Nazis nicht zu suchen. Natürlich kam immer mal einer vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Dann hat er uns Kinder weggeschickt und mit dem pro forma geredet. Meine Eltern hätten mich nie zu jemandem in Obhut geschickt, bei dem auch nur der leiseste Verdacht bestand, er könnte ein Hitler-Anhänger sein. Und das Unglaubliche: Schon im Herbst 1944 verkündete Onkel Friedel: »Zu uns kommen die Russen, wir lernen jetzt Russisch.« Ich war begeistert.
Das war sehr mutig von Onkel Friedel und musste natürlich geheim bleiben. Wenn das bekannt geworden wäre, wäre mein Onkel als »Verräter« und »Wehrkraftzersetzer« verhaftet und hingerichtet worden. Viele wurden noch in den letzten Kriegswochen von den Nazis ermordet, weil sie am »Endsieg« zweifelten oder aus der Wehrmacht oder dem »Volkssturm« desertierten.
Und Sie haben Russisch gelernt?
Natürlich. Das Lehrbuch habe ich noch: »Tausend Worte Russisch«. Anfang der 30er Jahre hat der Ullstein-Verlag eine Reihe herausgegeben: »Tausend Worte Englisch«, »Tausend Worte Französisch« und so weiter. Dieses Lehrbuch war einfach fantastisch, mit erstklassiger Lautschrift. Das war sehr nützlich.
Sie konnten sich dann wirklich mit den Rotarmisten verständigen?
Ja. Wir haben sie auf Russisch begrüßt. Ich erinnere mich an drei Kosaken, die für die Betreuung der Pferde abgestellt waren. Sie kamen mit der zweiten Welle. Von den ersten bei uns an der Ostsee »angestrandeten« russischen Soldaten erfuhren wir, dass sie ein Schnapsschiff gekapert hätten, und in einem entsprechenden Zustand befanden sie sich auch.
Näher angefreundet habe ich mich mit einem sehr jungen Kosaken, Nikolai, der vielleicht gerade mal 18 Jahre alt war. Ich besuchte ihn morgens im Stall mit »Dobroe utro«. Er setzte mich auf ein Pferd, und gemeinsam ritten wir die Pferde zur Tränke. Ohne Sattel, nur mit Zaumzeug. Eines Tages zeigte er mir ein Foto von einem kleinen Mädchen, etwa so alt und so blond wie ich. Das sei seine Schwester Jewgenija. Er habe große Sehnsucht nach ihr, sagte er mir. Kurzum: Ich hatte keine Angst vor den »Russen« wie so viele Deutsche. Ich freute mich auf sie, war neugierig auf sie.
Ihr Onkel Friedel war zwar kein Nazi, aber auch auf seinem Hof arbeiteten Zwangsarbeiter. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nein. Die Landwirtschaft musste doch weitergeführt werden. Und die Männer waren im Krieg oder sind als Krüppel zurückgekehrt. Onkel Friedel hat sich um seine Polen sehr gut gekümmert. Sie gehörten faktisch zur Familie. Sie waren gut untergebracht und hatten zu essen. Wir Kinder waren gern bei den polnischen Landarbeitern, die haben leckere Bratkartoffeln gemacht. Und unsere beiden polnischen Hausmädchen, Sophie und Marianne, die natürlich unseren privaten Russischunterricht mitbekommen haben, waren uns gegenüber sehr aufgeschlossen.
Als dann die Russen ante portas waren, hat Onkel Friedel den Sikorras, der polnischen Familie, die auf seinem Hof arbeitete, einen gummibereiften Wagen und zwei Pferde geschenkt: »Fahrt nach Hause, viel Glück.« Die Pferde wären von den Russen sowieso requiriert worden. Aber er hat sie den Polen gern gegeben. Onkel Friedel war schon ein Pfundskerl. Tante Maria auch.
Sie hatten eine unterm Hakenkreuz eher untypische Kindheit, schienen vor der NS-Ideologie gefeit?
Das habe ich meinen Eltern zu verdanken. Bevor ich eingeschult wurde, da war ich sechs, hat meine Mutter mich aufgeklärt: »Du wirst Sachen hören, mit denen wir nicht einverstanden sind. Glaube all das nicht. Wir wissen es besser.« Und mein Vater mahnte im letzten Gespräch, das ich mit ihm zu Kriegszeiten hatte: »Lass dir keine Angst machen vor den fremden Soldaten, die bald zu uns kommen.«
Sie hatten nicht nur mit Ihren Eltern, Tante und Onkel, sondern auch mit Ihrem Lehrer auf dem Darß Glück.
In Berlin hatte ich eine Lehrern, die eine stramme Nazissin war. Wir mussten all diese fürchterlichen Lieder singen und mit »Heil Hitler« grüßen. Kein Unterrichtstag begann ohne das sogenannte Morgengebet: »Händchen falten, Köpfchen senken und an unseren Führer denken.« Unser Dorfschullehrer auf dem Darß, Herr Gertz, verlangte diesen Blödsinn von uns nicht. Wie ich später erfuhr, ist er dann auch denunziert worden. Aber er kam heil aus der unerquicklichen Geschichte heraus. Jemand offenbar mit Einfluss hat ihm einen guten Leumund bescheinigt.
War es nicht unvorsichtig von Ihren Eltern, Sie von deren Opposition zu Hitler wissen zu lassen?
Ich sehe das anders, obwohl ich Verständnis für jene Eltern habe, die ihre Kinder im Ungewissen über deren Gegnerschaft zum Regime gelassen haben, sie nicht einweihten. Meine Eltern haben uns die Wahrheit nicht vorenthalten. Sie schärften mir natürlich ein, verschwiegen zu sein, weil das sonst für uns alle sehr gefährlich hätte werden können. Ich war ein folgsames Antinazikind. Anfangs war ich vielleicht auch noch viel zu jung, um Ängste zu entwickeln, das kam erst später. Da bangte ich natürlich um meine Eltern. Ich war erleichtert, als der Krieg zu Ende war. Jetzt wusste ich, dass meinen Eltern nichts mehr geschehen konnte. Das Vertrauen der Eltern in ihre Kinder ist ein Geschenk fürs Leben. Ich bin voller Bewunderung für meine Eltern, die mit uns offen geredet haben.
Ihre Eltern retteten Juden und halfen auch vielen anderen Verfolgten?
Mein Vater hat junge polnische Jüdinnen mit falschen, »arischen« Papieren ausgestattet und sie zu seiner Frau nach Deutschland geschickt. Dort hat sie meine Mutter bei ahnungslosen Berliner Familien untergebracht, wo sie alle überlebt haben. Mein Vater war als Gebietslandwirt nach Drohobycz, Galizien, eingezogen worden. So konnte er Juden mit Nahrungsmitteln versorgen.
Beide wurden als Gerechte unter den Völkern in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt - worauf Sie gewiss stolz sind.
Stolz ist das falsche Wort. Das Wort kommt in meinem Vokabular nicht vor. Ich habe es als Kind viel zu oft gehört, es ist für mich ideologisch besetzt: der Stolz auf den »Führer«, Stolz auf die Wehrmacht, die in »Blitzkriegen« halb Europa eroberte und ungeheures Leid über die Völker brachte, die sich ungeheuerlicher Verbrechen in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion schuldig gemacht hat. Ich habe ein Problem mit diesem Wort.
Natürlich hat es mich gefreut, als Vater 1967 geehrt wurde, zwei Jahre vor seinem Tod. Und ich freute mich auch, als 19 Jahre später jüdische Frauen, Ukrainerinnen und Polinnen, denen meine Mutter geholfen hatte und die inzwischen zu Amerikanerinnen oder Israelinnen geworden waren, sich zusammentaten, weil sie sich sagten: Es kann nicht sein, dass der Mann geehrt wird, aber die Frau, die doch die gleichen Risiken getragen, uns versteckt und versorgt hat, nicht in gleicher Weise. Sie haben das bürokratische Prozedere noch einmal angeleiert. Meine Mutter empfand es nicht als nötig, meinte: »Das ist doch lächerlich, dass man für Anstand belohnt wird. Die Unanständigen sollten bestraft werden, das ist viel wichtiger.« Sie hat ihre Ehrung 1986 dann leider nicht mehr erlebt. Meine Geschwister befanden, dass ich zur Baumpflanzung nach Israel fliegen sollte. Ich nahm meinen damals 15-jährigen Sohn Thilo mit.
Mir ist die Ehrung in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. Es sind so viele gekommen, die meisten waren natürlich Kinder und Enkel der Geretteten. Unvergesslich für mich: Zwei kleine Mädchen, zwischen acht und zehn Jahre alt, kamen auf mich zu mit einem kleinen einfachen Sträußchen, Gänseblümchen, und sagten: »Vielen Dank, dass Ihre Eltern unsere Großmutter gerettet haben. Wir wären sonst nicht auf der Welt.«
Im Juni vergangenen Jahres war ich noch einmal dort. Weil der Sohn einer von meinen Eltern geretteten Familie aus Drohobycz meinte, mein Buch »Zwei Bäume in Jerusalem« müsse ins Hebräische übersetzt werden. Er hat einen Übersetzer und einen kleinen Verlag gefunden und das Buch auf eigene Kosten herausgebracht. Ich hätte mich übrigens auch sehr gefreut, wenn mein Buch »Russensommer« in russischer Übersetzung herausgekommen wäre.
Vielleicht erfüllt sich Ihr Wunsch ...
(Lacht) Schön wär’s. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich zunächst etwas Bammel hatte, als ich mit »Russensommer« auf Lesetour in Ostdeutschland ging. Ich war angenehm überrascht. Solch ein Interesse, solche Aufmerksamkeit habe ich in Westdeutschland nicht erlebt.
In Mecklenburg-Vorpommern kamen die Menschen nach der Lesung zu mir, um mir ihre Erfahrungen mitzuteilen. Eine ältere Dame berichtete, dass ein russischer Offizier sie damals, kurz nach der Befreiung, aufforderte, allen Frauen und Kindern im Dorf Bescheid zu geben, sie mögen sich Essen aus der Gulaschkanone der Roten Armee abholen. Andere Frauen meines Alters haben während der Lesung geweint und haben mir bestätigt: »Ja, so war das. Aber das glaubt uns heute ja keiner mehr, dass viele Russen gut zu uns waren.«
Weil die Historiografie nur von Vergewaltigungen, Requirierungen, Beutezügen berichtet.
Das stimmt ja auch, das ist nicht Fiktion. Aber es gab auch das andere freundliche Gesicht, die kinderfreundlichen Rotarmisten. Und dies trotz der furchtbaren Verbrechen, der über zwanzig Millionen Ermordeten unter deutscher Okkupation. Es soll keine Familie in Russland geben, die nicht Opfer zu beklagen hatte. Es grenzt an ein Wunder, dass die Russen überhaupt noch freundlich zu uns sein konnten.
Macht Ihnen das Erstarken von Rechtsradikalen Angst? Oder ist Ihr Glauben in die wehrhafte Demokratie unerschütterlich.
Ich habe großes Vertrauen in die wehrhafte Demokratie. Ich bin aber dennoch entsetzt, dass 75 Jahre nach der Befreiung vom inhumanen, barbarischen, mörderischen NS-Regime wieder entsetzliche Verbrechen geschehen, Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Abstammung, ihrer Hautfarbe oder ihrer politischen Gesinnung diffamiert, gejagt, mit Morddrohungen überhäuft oder sogar ermordet werden. Das hätte ich 1945 nicht für möglich gehalten.
Ich betone immer wieder, dass Politiker und alle anderen Verantwortungsträger in diesem Staat auch auf ihre Wortwahl achten müssen. Da gab es schon viele Entgleisungen. Man kann mit Worten zündeln.
Würden Sie sagen, dass Ihre Begegnung mit Rotarmisten 1945 auf dem Darß Ihr Verhältnis zu Russland und den Russen geprägt hat?
Ganz klar. Wobei ich immer einen Unterschied mache zwischen den Menschen und dem System. Was wir dem russischen Volk, den Völkern der Sowjetunion angetan haben, ist in Worten nicht zu fassen.
Mein Bruder war in russischer Kriegsgefangenschaft, das war hart, er hat geschuftet und gehungert, aber er wurde nicht gequält. Und die Wachmannschaften hatten auch wenig zu essen. Mein Bruder kam im November 1947 abgemagert bis auf die Knochen nach Hause. Die Nazis haben russische Kriegsgefangene jedoch regelrecht dem Hungertod ausgeliefert, die Soldaten und Offiziere der Roten Armee waren in den Konzentrationslagern in einem extra eingezäunten, abgeriegelten Gelände elendigem Dahinsiechen überlassen.
Ich versuche, mich in die Rotarmisten hineinzuversetzen, die all die Konzentrationslager östlich der Elbe befreiten und die Leichenberge oder auch wandelnden Skelette ihrer geschundenen und gepeinigten Kameraden sahen. Ich bin der Meinung, dass wir Deutschen eine große Schuld und Verantwortung tragen, vor allem gegenüber dem russischen Volk. Die Verabschiedung der sowjetischen Besatzungsarmee 1994 empfand ich als unwürdig. Es war ein Abschied zweiter Klasse. Und das war falsch.
Wie begehen Sie den 8. Mai?
Ich bin leider wegen des Coronavirus zu Stubenarrest verurteilt. Ich werde mich erinnern, wäre natürlich sehr gern zum Treptower Ehrenmal gegangen und hätte dort nicht nur ein Blümchen niedergelegt.
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