Schweigen und Schämen

Der Großvater von Harald Hahn war als «Asozialer» in Buchenwald interniert.

  • Harald Hahn
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Du musst mehr hassen«, ermahnte sie mich kürzlich. »Den Hass sieht man in deinen Augen nicht, das müssen wir anders machen.« Die Schriftstellerin und Schauspielerin Signe Ibekken hatte in den vergangenen Wochen einige Mühe, mich etwas bühnentauglicher hinzukriegen für ein Einmannstück, das ich selbst geschrieben habe. Und darin geht es viel um Hass. Nicht nur in der beschriebenen Szene, in der ich mich schwer tat, schauspielerisch in die Rolle eines Aufsehers im KZ Buchenwald zu schlüpfen.

Dieses Stück geht mir sehr nahe. Es betrifft meine Familie, aber auch mehr als das. Als ich anfing, dachte ich, es würde ein Stück über meinen Großvater werden, der über neun Monate in Buchenwald als sogenannter »Asozialer« inhaftiert war. Doch beim Schreiben wurde mir immer klarer, dass das auch ein Stück über mich werden würde. Und über die Umstände, die mich partout zu etwas anderem machen wollten, als ich es dann doch geworden bin.

Harald Hahn

Harald Hahn, geboren 1966 im württembergischen Aalen, lebt als Theaterpädagoge, Autor und systemischer Berater in Berlin. Sein Stück über die Geschichte seines Großvaters sollte am 2. Mai Premiere haben, die verschoben werden musste. Informationen dazu: www.asozialer-grossvater.de

Aufgewachsen bin ich mit meiner Familie und meinen Großeltern in Aalen. Oder genauer: in Rötenberg. Alle in dem schwäbischen Städtchen wissen sofort Bescheid, wenn dieser Name fällt. Rötenberg ist, was man verschwiemelt einen »sozialen Brennpunkt« nennt. Damals, in den 1970er Jahren, war das ein Stigma. Vermutlich ist das bis heute so. Kaum ein Rötenberger schafft es jemals auf eine höhere Schule, geschweige denn an eine Uni. Zu meiner Zeit in Aalen stand Rötenberg jedenfalls für »Assis«, für Kleinkriminelle.

Der Platz ganz hinten

Was das für mich hieß, erfuhr ich rasch. In der Grundschule saßen die Kinder aus unserem Stadtteil nach zwei Wochen plötzlich alle ganz hinten, als wäre das völlig normal. So normal wie die damals absolute Mehrheit der CDU im Stuttgarter Landtag. So selbstverständlich wie die Tatsache, dass mit Hans Filbinger einer Ministerpräsident war, der als Marinerichter in der Nazizeit Todesurteile unterzeichnet hatte. Und so natürlich, wie dieser Mann bis heute Ehrenmitglied der CDU in Baden-Württemberg ist.

Sehr schnell wurde diesen Kindern auch der Platz ganz hinten noch weggenommen. Nach einem Jahr kamen fast alle auf eine sogenannte Sonderschule, die den Namen des Pädagogen Hans Pestalozzi trug. Sie landeten dort, weil sie im falschen Stadtteil wohnten - und wurden dafür gehänselt. »Pestalozzi-Schüler« war ein gängiges Schimpfwort. Ein anderes war das Wort mit »A«, das noch immer zum Sprachgebrauch gehört, längst nicht nur auf Schulhöfen. Es bezeichnet nicht etwa reiche Steuerhinterzieher.

Fast wäre auch ich auf der Pestalozzi-Schule gelandet und damit in dem Leben, das für Rötenberger vorgesehen war. Dann würde ich heute kaum Artikel schreiben oder gar Theaterstücke. Aber ich hatte Glück. Nach einem mit Müh’ und Not erworbenen Hauptschulabschluss begann ich eine Bäckerlehre. Das war eine der wenigen Möglichkeiten für einen Jungen aus Rötenberg: Bäcker, Metzger oder - höchstens - KFZ-Mechaniker. Der Rest ging ohne Ausbildung in die Fabrik.

Für mich aber wurde der Handwerksberuf zum Beginn eines Bildungsaufstiegs. Mit Hauptschulabschluss und Ausbildung konnte ich auf dem »Bielefelder Oberstufenkolleg«, der Reformschule von Hartmut von Hentig - damals ein Vorzeigeprojekt sozialdemokratischer Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen -, doch noch Abitur machen. Dann ging es in die weite Welt. Bis in die USA, als Freiwilliger mit »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste«. So besuchte ich 1993 in Philadelphia einen Workshop für Menschen aus »Täter- und Opferfamilien« der NS-Zeit.

Eine der Leiterinnen des Workshops stammte aus einer jüdischen Familie, die mit Ausnahme der Mutter komplett ermordet worden war. Der Vater der anderen war SS-Wächter in Dachau. Eine der beiden sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde: Es gebe da eine Gemeinsamkeit in den Täter- und den Opferfamilien: das Schweigen.

In Täter- und Opferfamilien war dieses Schweigen wohl am tiefsten. Ich bin aber überzeugt, dass in den wenigsten deutschen Haushalten aufrichtig über diese Zeit gesprochen wurde. Bei uns bestand das Geheimnis eben darin, dass Opa im Lager war, als sogenannter Asozialer. Man wusste das schon irgendwie in der Familie, es wurde in Andeutungen darüber gesprochen, wenn der Großvater nicht dabei war. Aber die Geschichte wurde mit den Jahren sozusagen immer unklarer. Es gab sogar zwei Meinungen darüber, welches Lager es denn gewesen sei, Dachau oder Buchenwald.

Es war Buchenwald, ich habe recherchiert. Dorthin verschleppt wurde Anton Knödler, Kalkwerksarbeiter, geboren und wohnhaft in Mögglingen, Vorstrafen nicht bekannt, den Akten zufolge am 5. Juli 1938. Zusammen mit 50 weiteren Männern, im Zuge der so genannten Aktion »Arbeitsscheu Reich« (ASR). Bereits im Januar 1938 hatte Heinrich Himmler angeordnet, die Festnahme aller arbeitsfähigen Männer vorzubereiten, die »nachweisbar in zwei Fällen die ihnen angebotenen Arbeitsplätze ohne berechtigten Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber nach kurzer Zeit ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben haben«. Diese Leute seien »asozial« und müssten durch Lagerhaft diszipliniert werden.

In einer ersten Welle im Frühjahr 1938 erhielt Buchenwald dadurch 4000 Zwangsarbeiter für den Lageraufbau. In der auch als »Juni-Aktion« bekannten zweiten Verhaftungswelle, in der auch mein Großvater festgesetzt wurde, hatte sich der Radius auch auf jüdische Männer erweitert. Mein Großvater hat das Lager immerhin überlebt. Im April 1939, anlässlich von Hitlers 50. Geburtstag, wurde er im Rahmen einer Amnestie freigelassen und sogleich zur Marine eingezogen. Der Führer brauchte jetzt Soldaten.

Eine politische Emotion

Das Familiengeheimnis beruhte auf Scham. Obwohl die Geschichte, »rational« betrachtet, gewiss nicht zum Schämen ist. Mussten sich nicht diejenigen schämen, die in ihrer vermeintlichen Wohlanständigkeit Hitler ermächtigt hatten? So funktionierte das nicht. Die Mehrheit verweigerte einfach jede Scham. In meinem Stück lege ich diese Verweigerung einem prototypischen, gedankenlosen, rechten schwäbischen Hausmeister in den Mund: »Woisch, jetzt muss doch endlich Schluss sein mit dem alte Glomp, was han den die Amis gmacht? Do schwätzt niemand drüber!«

Indem damals die realen Kinder dieses fiktiven Hausmeisters nach elterlichem Vorbild mit dem Finger auf die »Pestalozzi-Schüler« zeigten, delegierten sie dieses Schamgefühl. Und das mit Erfolg. Für mich wirkte die Lager-Geschichte des Großvaters noch Jahrzehnte später wie eine »amtliche« Aufforderung, mich zu schämen: für die eigene erlebte Armut und Ausgrenzung. Dafür, nicht dazuzugehören, anders zu sein. Eben geborener Rötenberger.

In meinem Stück versuche ich, diese Scham in vielfältiger Weise zu bearbeiten. Neben Monologen, in denen ich dem Großvater aus seiner Akte vorlese, gibt es auch eine Clownsnummer. Darin isoliere ich die Scham von allem Gesellschaftlichen, um sie im Kern zu fassen: Ich schlüpfe in die Rolle des Kindes, das sich beim Pommes-Essen mit dem Großvater mit Ketchup bekleckert und sich dann ganz furchtbar schämt.

Soziale Scham ist eine machtvolle Emotion. Und sie hat eine politische Ebene: In meinem Stadtteil, dem Rötenberg, gab es nicht wenige Menschen, die sich erfahrenes Unrecht selbst zum Vorwurf machten, anstatt dagegen aufzubegehren. So schützt die Scham die Hackordnung der Gesellschaft. Und sie ist weit verbreitet. In meiner Arbeit als Diplom- und Theaterpädagoge, der die Methoden von Augusto Boals »Theater der Unterdrückten« praktiziert, begegnet sie mir immer wieder.

»Heimliche Begleiter - soziale Herkunft und Bildung« heißt ein »Empowerment-Workshop« für studierende Kinder aus nichtakademischen Familien, den ich vor einigen Jahren entwickelt habe. Seit »Rückkehr nach Reims«, dem Bestseller von Didier Eribon, wird derselbe gelegentlich an Unis gebucht. Und ich brauche nur eine Frage zu stellen, um die Gewalt der erworbenen Scham zu verdeutlichen: »Bringt ihr eure Freundin oder euren Freund eigentlich zu euren Eltern mit?«

Da ist es dann immer schlagartig still. Und wird die individuelle Seite dieses Schamkomplexes in einem geschützten Raum reflektierbar. Zudem zeigt sich dann auch dessen gesamtgesellschaftliche Seite, zumindest im Ansatz: die Be-Schämung der Ausgegrenzten durch die Mehrheit.

Geschichte ist nicht einfach vergangen, sie lebt in der Gesellschaft weiter fort. So ist es auch mit dieser Be-Schämung der sogenannten Randgruppen. Dass es dabei Kontinuitäten aus der Zeit gibt, in der man meinen Großvater ins Lager steckte, lässt sich in dem dem Sammelband »ausgesteuert - ausgegrenzt … angeblich asozial« von Anne Alex und Dietrich Kalkan nachlesen. Diese Spuren finden sich nicht nur in der Art, wie man bis heute über Menschen redet, die nicht arbeiten können (oder tatsächlich nicht im herkömmlichen Sinne wollen). Sondern auch in der Gesetzgebung: Erst in jüngster Zeit hat das oberste Gericht dieses Landes wenigstens existenzbedrohende »Sanktionen« gegen das »Verweigern« von Arbeit für verfassungswidrig erklärt.

Schwarzer Winkel, toter Winkel

Gleichfalls erst vor wenigen Wochen hat der Bundestag die seinerzeit als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« stigmatisierten Menschen als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Bis dahin steckte das Schicksal derjenigen, denen in den Lagern der »schwarze Winkel« auf die Kittel genäht wurde, im toten Winkel der Aufarbeitung. Offenbar war das auch wichtig für das »schamlose« Leben jener »Anständigen«, auf die sich Hitler einst stützen konnte - für den Gefühlshaushalt der Nachkriegsgesellschaft. Und so selbstverständlich, wie Hans Filbinger weiterhin hoch angesehen ist in der Landes-CDU, hat die AfD gegen diese Anerkennung gestimmt.

Mein Stück sollte am 2. Mai Premiere haben. Das ging aus bekannten Gründen nicht. Also gewinne ich Zeit, den »Hass« in meinen Augen zu trainieren, auf dass man mir den SS-Mann abnimmt. Zulassen will ich den Hass aber nur auf der Bühne. Denn wer ihm einmal die Türe öffnet, vergiftet sein Herz. Hass endet nicht, er will immer mehr. Den Hass zu verbannen, mich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen und das »Nie wieder« ernst zu nehmen - das bin ich meinem Großvater schuldig!

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