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Trocken bleiben in der Krise
Die Corona-Pandemie bereitet Berliner Alkoholkranken große Probleme
Stefan Reichert* ist Alkoholiker. 30 Jahre hat er getrunken, verschiedene Phasen der Krankheit durchlebt. »Mal hast du die Sucht im Griff, mal überhaupt nicht. Das waren die Abstürze«, erzählt er. Dann hätten Freund*innen ihn gefragt, ob er nicht endlich zum Entzug in die Klinik gehen wolle. Seit dreieinhalb Jahren ist Reichert nun trocken. Er ist in seiner Abstinenz stabil, weiß aber um das bleibende Rückfallrisiko: »Ich habe mehrere Anläufe und klinische Entgiftungen gebraucht.«
Alkoholsucht ist eine unheilbare Krankheit, von der in Deutschland 1,6 Millionen Menschen betroffen sind. Für weitere 1,4 Millionen verzeichnet das Anfang April veröffentlichten Jahrbuch 2020 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen einen missbräuchlichen Konsum. Die Rückfallquote bei Alkoholkranken ist hoch. Auch nach einer Therapie wird rund die Hälfte nach einem bis zwei Jahren rückfällig.
Reichert gibt heute seine Erfahrungen weiter: Er leitet eine Selbsthilfegruppe bei einem Träger im Berliner Südwesten. Seit über einem Monat finden hier coronabedingt keine Treffen mehr statt. Für viele Teilnehmer*innen der Gruppe ist die Situation belastend, weiß er. Besonders für diejenigen, die mit dem Entzug gerade erst beginnen oder erst einige Monate trocken sind. Sie haben noch nicht die Erfahrungen, sich Alternativen zu suchen. Oder sie sind in ihrer Abstinenz noch nicht so stabil, dass sie die aktuelle Situation einfach wegstecken können. Darüber zu reden, hilft gegen das Verlangen, es ist Teil der Therapie. »Die wichtige Frage ist jetzt: Wie hat jeder und jede vor Corona für die Eigensicherung vorgesorgt? Habe ich die zwei oder drei Telefonnummern von Vertrauten, die ich anrufen kann, wenn es schlimm wird, wenn ich Suchtdruck habe - und rufe ich dann auch an?«, berichtet Reichert.
Franz-Joseph Wohlleben arbeitet bei der integrativen Suchtberatung der Caritas in Berlin-Mitte. In der Beratungsstelle läuft der Betrieb weiter, aber unter Corona-Bedingungen. Der Träger hat die Beschäftigten mit Diensthandys ausgestattet, Einzelgespräche finden statt. »Die Vermittlungsketten sind unterbrochen«, sagt Wohlleben. Im Normalfall kommt jemand zum Erstgespräch zur Beratungsstelle und wird nach Bedarf im vielschichtigen System der Suchthilfe weitergeleitet. »Wir haben zwar nicht signifikant mehr Erstanfragen, dafür hat die Zahl der Anrufe von Familienangehörigen stark zugenommen. Viele Angehörige stoßen langsam an ihre Grenzen.«
»Die Nachsorge- und die Therapieangebote laufen bei uns unverändert weiter«, erzählt Stefanie Renner. Sie ist Suchttherapeutin und Sozialpädagogin bei Vista. Insgesamt 14 Standorte hat der berlinweit tätige Verbund, darunter sieben Beratungsstellen, Wohn- und Beschäftigungsprojekte sowie Familienhilfeangebote. Renner ruft regelmäßig ihre Klient*innen an und fragt, wie es ihnen geht. »Sie haben sich teilweise in Chatgruppen organisiert oder telefonieren miteinander«, so Renner. Therapie-Einzelgespräche finden seit April wieder vereinzelt statt, der Rest laufe weiter telefonisch. Das Ansteckungsrisiko zu minimieren und die Vorgaben des Infektionsschutzes einzuhalten, habe oberste Priorität.
»Für Menschen, deren Abstinenz stark auf den regelmäßigen Austausch in unseren angeleiteten Gruppen baut, bricht jetzt vieles weg«, sagt ihr Kollege, Suchtberater Siegfried Kasch. Nicht alle melden sich, wenn sie wieder zum Alkohol greifen. Aber er habe von Rückfällen gehört, die die Betroffenen auf die ausfallenden Gruppentreffen zurückführen.
Konkrete Zahlen zu Rückfällen oder dazu, wie viele Menschen aktuell einen Entzug oder eine Therapie beginnen, beenden oder abbrechen, liegen nicht vor, teilte die Senatsverwaltung für Gesundheit auf nd-Anfrage mit. Nach Inkrafttreten der »Sars-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmen-Verordnung« des Senats im März wurden alle planbaren Aufnahmen, Operationen und Eingriffe in Kliniken verschoben. Damit sollen personelle und Bettenkapazitäten für an Covid-19 Erkrankte oder Verdachtsfälle freigehalten werden. Das betreffe auch die somatischen und psychiatrischen Fachabteilungen und Kliniken Berlins, heißt es aus der Senatsverwaltung. Akute (Notfall-)Aufnahmen seien aber auf ärztliche Anweisung ausreichend möglich.
Ines Neuschulz ist Fachärztin für Psychologie und Psychotherapie und Oberärztin in der Schlosspark-Klinik in Charlottenburg. Dort ist sie für die allgemeinpsychiatrische Station und die Suchtstation zuständig. »Wir bekommen zunehmend zu spüren, dass wir einen relevanten Teil unserer Therapiemöglichkeiten nicht in gewohntem Umfang anbieten können«, erzählt sie. Die Psychologin weiß von vielen Rückfällen, teils schon wenige Tage nach Aussetzen der Gruppentreffen. Auch in der Schlosspark-Klinik habe man auf den allgemeinpsychiatrischen Stationen die Bettenzahl zum Teil reduziert, die Suchtstation sei davon aber nicht betroffen. Die 22 Betten müssten daher aktuell bei Bedarf auch mit anderen akut psychiatrisch Erkrankten belegt werden. Für elektive Aufnahmen - den freiwilligen Gang in die Klinik nach einem Gespräch mit dem Hausarzt - gebe es derzeit eine Wartezeit von zwei bis drei Wochen.
Das gesamte Suchthilfesystem sei verlangsamt und arbeite »unter total erschwerten Bedingungen«, sagt Stefan Gutwinski. Er ist Psychiater in einer Tagesklinik in Wedding, einer Außenstelle der Charité. Die Beratungsstellen klagten, dass es derzeit kaum möglich sei, Menschen einen Platz in der Klinik zu vermitteln. Sozialarbeiter*innen in den Krankenhäusern berichten, dass es viel schwerer ist, Patient*innen nach dem Entzug in einer Nachsorgeeinrichtung oder Gesprächsgruppe unterzubringen. Auch auf den psychiatrischen Stationen der Charité befinden sich Patient*innen im Drogen- oder Alkoholentzug gemeinsam mit psychisch Erkrankten. Einige träfen Entscheidungen, die für sie selbst schädlich sind, so Gutwinski. Die spezifischen Krankheitsbilder machen besondere Schutzmaßnahmen erforderlich: »Wenn ein potenziell Infizierter akut manisch ist und viel hin und her läuft, wäre das sonst gefährlich für die ganze Station.«
Die psychiatrischen Stationen haben die Aufnahme nach einem »Kohortensystem« eingerichtet. Das heißt: Patient*innen bleiben zunächst für 14 Tage auf einer Station - nach Möglichkeit in Einzelzimmern. Wenn sich jemand infiziert hat, wird nur die Station dichtgemacht, es muss also nicht das ganze Haus geschlossen werden. Die Trennung von ambulanten und stationären Patient*innen habe hohe Priorität. Schließlich wäre die Schließung seiner Einrichtung »eine Katastrophe«, sagt Gutwinski. Für Patient*innen etwa mit Depressionen, Psychosen oder bipolaren Störungen sei die Stabilität im Alltag immens wichtig.
Wegen der Senatsverordnung ist die Zahl der Entgiftenden viel niedriger als sonst. In vielen Psychiatrien stehen insgesamt weniger Plätze zur Verfügung. In der Charité in Mitte und im St.-Hedwig-Krankenhaus sind es laut Gutwinski ein Drittel weniger als zu normalen Zeiten. Für die Suchtkranken sei es oft schwer zu hören: »Dann musst du weiter konsumieren, wir können dich erst in ein paar Wochen aufnehmen.« Gutwinski geht von einer »sehr hohen Dunkelziffer beim Alkoholmissbrauch in den eigenen vier Wänden« aus.
Während langsam Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen in Kraft treten, bleiben die Herausforderungen für Suchtkranke bestehen, solange das Angebot der Suchthilfe eingeschränkt ist und die Gesprächsgruppen ausgesetzt sind. Stefan Reichert findet viel Stabilität in seiner Wohngruppe. Wichtig aber sei, sagt er: »Durchhalten! Es wird besser, jeden Tag.«
* Name von der Redaktion geändert
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