Bolsonaro ignoriert die Realität

Brasiliens Präsident fordert mit seinen Anhängern trotz steigender Infiziertenzahlen die Rückkehr zur Normalität

  • Niklas Franzen, São Paulo
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende des Treffens machte Jair Bolsonaro sogar Liegestütze. Eine Gruppe Fallschirmjäger kam am Sonntag mit Brasiliens ultrarechtem Präsidenten zusammen, betete inbrünstig für ihr Idol und schwor ihm lautstark die Treue. Vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasília hatten sich, wie schon in den Wochen zuvor, Anhänger*innen Bolsonaros versammelt, um gegen die Isolationsmaßnahmen zu demonstrieren. Während der Präsident und seine Fans hartnäckig eine Rückkehr zur Normalität fordern, rast Brasilien mit Vollgas in die Katastrophe.

Brasilien hat offiziell bereits die drittmeisten Corona-Infizierten weltweit. Nur in den USA und Russland sind es mehr. Offiziell sind rund 17 000 Menschen an Covid-19 gestorben. Die Dunkelziffer dürfe jedoch viel höher liegen, da in kaum einem Land so wenig getestet wird wie in dem größten Staat Lateinamerikas. Eine Studie des Imperial Colleges in London zeigt zudem, dass Brasilien von 48 untersuchten Ländern die höchste Ansteckungsrate hat. Trotzdem ist in vielen Städten die Isolationsrate in den vergangenen Wochen massiv zurückgegangen. Laut dem Bürgermeister von São Paulo, Bruno Covas, steht das Gesundheitssystem der Megametropole kurz vor dem Kollaps. Um New Yorker Verhältnisse abzuwenden, wird ein Lockdown diskutiert.

Der nördliche Bundesstaat Amazonas ist besonders von der Coronakrise betroffen. Dort ist das Gesundheitssystem bereits an seine Belastungsgrenzen gestoßen. In sozialen Medien zirkulieren dramatische Bilder von Massengräbern und überfüllten Krankenhäusern. Am Sonntag schickte das Militär Ärzte in abgelegene Regionen des Bundesstaates, der zum großen Teil vom Amazonas-Regenwald bedeckt ist. Dort leben viele Indigene.

Holzfäller, Goldschürfer und Landbesetzer haben das Virus mittlerweile weit ins Landesinnere gebracht und Indigene angesteckt. Zwar ist bisher umstritten, ob sie anfälliger für Corona sind. Allerdings sind indigene Gemeinden aus anderen Gründen besonders bedroht: Krankenhäuser sind in abgelegenen Regionen des nördlichen Brasiliens Mangelware, Hygienemöglichkeiten in den Gemeinden oft prekär, eine soziale Isolierung in den Dörfern kaum möglich. Laut der Artikulation der Indigenen Völker (APIB) sind bereits 102 Indigene an dem Virus verstorben.

Neben dem Chaos der Gesundheitsversorgung steckt Brasilien in einer handfesten politischen Krise. Am Freitag gab Gesundheitsminister Nelson Teich seinen Rücktritt bekannt - nach gerade einmal 28 Tagen im Amt. Zwar blieb Teich auf einer Pressekonferenz eine Erklärung für seinen Abgang schuldig. Es wird aber davon ausgegangen, dass Meinungsverschiedenheiten über die Verwendung von Chloroquin ausschlaggebend waren. Bolsonaro preist das Malaria-Medikament als Wundermittel gegen Corona an und will es auch bei Patient*innen mit leichten Symptomen anwenden zu lassen. Wissenschaftliche Studien zweifeln die Wirksamkeit des Medikaments gegen Covid-19 an.

Teichs Vorgänger Luiz Henrique Mandetta warnte in der Tageszeitung »Folha de São Paulo« gar vor schweren gesundheitlichen Risiken für Corona-Infizierte durch das umstrittene Medikament. Mandetta wurde von Bolsonaro entlassen, unter anderem weil er die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) befolgen wollte. Laut Mandetta, der mittlerweile ein scharfer Kritiker seines ehemaligen Chefs ist, stehe Brasilien erst am Anfang der Pandemie.

Auch die Gräben zwischen vielen Landesregierungen und Bolsonaro vertiefen sich. Per Dekret will der Präsident Fitnessstudios, Schönheitssalons und Friseursalons wieder eröffnen. Mehrere Gouverneure haben bereits erklärt, sich zu weigern, das Dekret umzusetzen. Bolsonaro hat sich durch seinen Kurs politisch weitestgehend isoliert. Allerdings kann er sich auf seine treue Wählerbasis verlassen. Studien zeigen, dass Bolsonaro trotz zahlreicher Skandale weiterhin die Unterstützung von rund 30 Prozent der Bevölkerung genießt. Auch in São Paulo versammelten sich am Sonntag Unterstützer*innen Bolsonaros. »Die Menschen sterben auch durch andere Krankheiten«, sagte Antônio Fernandes Sobrinho dem »nd«. Der 65-Jährige trägt ein gelbes Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft und hält eine gigantische Tröte in der Hand. »Ich habe eher Angst vor dem Virus, der im Parlament sitzt.« In den vergangenen Wochen sorgten die Proteste für Aufregung, weil dort auch ungeniert eine Rückkehr zur Militärdiktatur gefordert wurde und Journalist*innen tätlich angegriffen wurden. Auch an diesem Sonntag ist die Stimmung feindlich: Der Autor des Textes wurde während eines Interviews von Anhänger*innen Bolsonaros als »Abschaum« und »Kommunist« beschimpft.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.