Werbung

Kraftausdrücke statt Krisenmanagement

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro blamiert sich in einem Video über Kabinettssitzung bis auf die Knochen

  • Niklas Franzen, São Paulo
  • Lesedauer: 3 Min.

In Dauerschleife liefen die Ausschnitte des Videos im Fernsehen, mehrmals übertönte ein Piepton die Worte von Jair Bolsonaro. Journalist*innen sollten später 38 Schimpfwörter des Präsidenten zählen. Ein Richter des Obersten Gerichtshofes hatte zuvor das Video einer Kabinettssitzung freigegeben. Dort zu sehen: ein Treffen von Bolsonaro und seine Minister*innen am 22. April. Mehr als 3000 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt bereits an Corona gestorben. Doch um die Pandemie ging es bei diesem Treffen nur am Rand.

Mit dem Video will Sérgio Moro die Schuld des Präsidenten beweisen. Vor vier Wochen trat der damalige Justizminister und ehemalige Starrichter mit einer schweren Anklage zurück: Bolsonaro habe versucht, einen Vertrauten als Chef der Bundespolizei einzusetzen, um an geheime Informationen über Ermittlungen gegen seine Söhne zu gelangen. Der Oberste Gerichtshof hatte Ende April Ermittlungen gegen Bolsonaro genehmigt, doch die Filmaufnahmen waren unter Verschluss gehalten worden.

In der nun ausgestrahlten, zweistündigen Kabinettssitzung erklärte der rechtsradikale Politiker unter anderem, dass er versucht hatte, Sicherheitsleute in Rio de Janeiro auszutauschen. Es wird davon ausgegangen, dass er mit »Sicherheitsleuten« die Bundespolizei meinte. »Ich werde nicht darauf warten, dass sie meine Familie oder Freunde ficken«, brüllt Bolsonaro daraufhin in dem Video.

Der Präsident Brasiliens streitet ab, von der Bundespolizei gesprochen zu haben und wies noch am Freitagabend die Anschuldigungen zurück. Ex-Minister Moro erklärte hingegen, dass »die Wahrheit« dargestellt wurde. Auch andere Politiker*innen sehen in dem Clip einen Beweis für die Schuld Bolsonaros. Eine politische Einflussnahme auf die Bundespolizei ist eine Straftat und könnte Konsequenzen für den Präsidenten haben.

Das Video zeigt aber noch mehr. Ein cholerischer Bolsonaro fordert die Bewaffnung der Bevölkerung, wirft mit Schimpfwörtern um sich und beleidigt in einem Rundumschlag Medien und politische Gegner. Die rechten Gouverneure von São Paulo und Rio de Janeiro würden laut Bolsonaro aus ideologischen Gründen strikte Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 durchsetzen. Brasilien hat mittlerweile die zweithöchsten Infektionszahlen weltweit, die Weltgesundheitsorganisation erklärte Lateinamerika und Brasilien zum neuen Epizentrum der Pandemie.

Neben Bolsonaro meldeten sich in der Sitzung auch mehrere Minister*innen zu Wort. Bildungsminister Abraham Weintraub forderte, die »Penner« des Obersten Gerichtshofes ins Gefängnis zu werfen. Auch die evangelikale Familienministerin Damares Alves sprach sich dafür aus, Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen zu verhaften. Und Umweltminister Ricardo Salles empfahl, den derzeitigen medialen Fokus auf das Coronavirus zu nutzen, um die Umweltschutzgesetze ohne Zustimmung des Kongresses zu verändern, sodass man in der Amazonasfrage endlich »vorankomme«.

Viele werten die Aussagen Bolsonaros und der Minister*innen als »antidemokratisch«. »Diese Barbaren stürzen die Republik ins Chaos«, erklären brasilianische Oppositionspolitiker*innen in einem Schreiben. Die Opposition will das Skandalvideo nutzen, um ihren Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren Nachdruck zu verleihen. Allerdings könnte die Aufzeichnung das »Jetzt-erst-Recht«-Verhalten seiner Anhänger*innen nur noch weiter befeuern. Bolsonaros Frontalangriffe treffen den Nerv seiner radikalisierten Anhängerschaft.

Auch Umfragen zeigen, dass Bolsonaro kaum an Popularität verliert, ihn auch weiterhin rund 30 Prozent der Bevölkerung unterstützen. Zudem ist Bolsonaro taktische Bündnisse mit Abgeordneten des Mitte-Rechts-Blocks im Parlament eingegangen. Ein Amtsenthebungsverfahren ist daher trotz des Videos unwahrscheinlich.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.