Schulden in Rekordhöhe

Rot-Rot-Grün will die Folgen der Coronakrise mit neuen Krediten in Höhe von sechs Milliarden Euro eindämmen

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 6 Min.

Die seinerzeit dabei waren, können es nicht vergessen. Bis zu 100 wütende Eltern kamen 2001 in den Jugendhilfeausschuss des Bezirks Lichtenberg, um gegen die geplante Schließung von Jugendklubs zu protestieren, die wegen des rot-roten Sparkurses abgewickelt werden sollten. Daran erinnert sich Michael Grunst deshalb noch sehr gut: »Ich war damals der Jugendhilfe-Ausschussvorsitzende«, sagt der Linkspartei- Politiker. Heute ist er Bezirksbürgermeister von Lichtenberg. Als klar war, welche finanzpolitischen Löcher die Coronakrise in den Landeshaushalt der Metropole Berlin reißen wird, war das alte Trauma schnell wieder präsent.

Sinnbildlich im Jahr 2001 veranschaulicht im Ausspruch des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD): »Wir werden sparen, bis es quietscht.« Hinter dem flapsigen Slogan verbargen sich drastische Kürzungsvorgaben des rot-roten Senats. SPD und PDS setzten darauf - am Ende erfolglos -, dass dem Land Berlin vom Bund finanziell geholfen würde. Es müsse nur nachweisen, dass gespart wird, bis die Schwarte kracht. Am Ende war diese Strategie zum Scheitern verurteilt: Im Herbst 2006 gingen Rot-Rot, Wowereit und sein Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) endgültig vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit ihrer Klage auf Finanzhilfen leer aus.

Doch der Senat verlor damals nicht nur einen Gerichtsprozess, sondern zerstörte durch den Sparwahn auch das in ihn gesetzte politische Vertrauen der Berlinerinnen und Berliner. Das Verscherbeln des Tafelsilbers wie der rund 65 000 Wohnungen des ehemaligen landeseigenen Wohnungskonzerns GSW an ein privates Konsortium von Fondsgesellschaften für 405 Millionen Euro inklusive der Übernahme von rund 1,5 Milliarden Schulden hängt der Politik immer noch nach.

Auch auf vielen anderen Ebenen beschäftigen die Spätfolgen des Kürzungskurses Berlin bis heute. 2016 war Rot-Rot-Grün nicht zuletzt deshalb gewählt worden, um die Stadt und ihre Infrastruktur wieder zum Laufen zu bringen: die maroden Schulen zu sanieren und neue zu bauen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die Verkehrswende voranzutreiben. All die schönen Projekte stehen jetzt auf einmal zur Disposition, so die Befürchtung.

Dass es bis heute in Lichtenberg bewährte Jugendeinrichtungen gibt, liegt auch daran, dass es den Bezirkspolitikern gelungen war, die Einrichtungen an externe Betreiber zu vergeben und sie damit zu retten. Bezirksbürgermeister Grunst und seine Kollegen in den anderen Bezirken befürchteten wegen solcher Erfahrungen, dass der gegenwärtige Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) den Sarrazin machen könnte. Nicht zu Unrecht: Anfang Mai wurde in der »Berliner Morgenpost« berichtet, dass Kollatz von den Bezirken Einsparungen in Höhe von 160 Millionen Euro fordere.

Doch das ist alles Schnee von gestern. Denn die rot-rot-grüne Koalition hat sich inzwischen grundsätzlich entschieden, anders als 2001 keine neuen Sparorgien loszutreten, sondern angesichts der durch die Coronakrise ausgelösten Notlage einen strikten antizyklischen finanzpolitischen Kurs nach Vorgabe des Ökonomen John Maynard Keynes zu fahren: Demnach verschuldet sich der Staat in Krisen höher, um dadurch verstärke Nachfrage zu erzeugen und die Wirtschaft zu stabilisieren.

»Das Land Berlin verfolgt einen offensiv keynesianischen Ansatz«, erklärte Kollatz am Dienstag bei der Senatspressekonferenz im Roten Rathaus. Es gehe darum, die Voraussetzungen zu schaffen, um halbwegs gut aus der Krise zu kommen, so der Finanzsenator. Wie tief drin die Metropole steckt, veranschaulichte jüngst die Steuerschätzung: Den regionalisierten Ergebnissen zufolge werden für Berlin im laufenden Jahr Steuermindereinnahmen gegenüber dem verabschiedeten Haushalt von rund drei Milliarden Euro und im kommenden Jahr von etwa 1,65 Milliarden Euro erwartet.

Von den Einbrüchen beispielsweise bei den Gewerbesteuereinnahmen sind infolge des Lockdowns während der Coronakrise natürlich auch andere Kommunen in Deutschland betroffen. Doch Berlin, dessen Wirtschaftsleistung stark von Dienstleistungen, Messen und Tourismus dominiert ist, trafen die Einschränkungen besonders hart. »Wir werden pro Jahr zwei Milliarden Euro weniger an Einnahmen zur Verfügung haben«, rechnet Kollatz vor. Erst im Jahr 2024, so die Schätzungen, kehre man zu den Steuereinnahmesteigerungen zurück, die Berlin in den vergangenen Jahren so starke Überschüsse beschert hatten.

Um der Notsituation Rechnung zu tragen, muss Berlin also wieder Schulden machen: Den Nachtrag zum Doppelhaushalt 2020/2021 mit einem Volumen von fast fünf Milliarden Euro legte der Finanzsenator in dieser Woche vor, der zweite soll bald folgen. »Das wird nicht das Ende sein, es wird einen dritten Nachtrag geben«, kündigt Kollatz an. Unter anderem aufgefangen werden sollen mit dem Nachtragshaushalt Einnahmeausfälle bei den Berliner Verkehrsbetrieben und dem landeseigenen Krankenhauskonzern Vivantes sowie coronabedingte Mindereinnahmen bei den zahlreichen Kultureinrichtungen, die während der Krise ihre Pforten schließen mussten.

Doch die Pläne des Finanzsenators gehen den Regierungsfraktionen im Abgeordnetenhaus nicht weit genug. Ebenfalls am Dienstag verkündeten überraschend die Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und Linke im Abgeordnetenhaus in einer gemeinsamen Erklärung, dass sie »umfangreiche und vorausschauende finanzpolitische Maßnahmen für den Berliner Haushalt« treffen wollen. »Es geht allen drei Fraktionen darum, in der Coronakrise weit über den Tag hinauszudenken und entschlossen zu handeln«, hieß es.

Damit gingen die Koalitionsfraktionen auf Konfrontationskurs zum eigenen Senat. Schon in der kommenden Sitzung des Abgeordnetenhauses am 4. Juni wollen die Fraktionen den Entwurf des Senats für den ersten Nachtragshaushalt deutlich verändern: Die Parlamentsfraktionen planen sogar mit einer Neuverschuldung von insgesamt sechs Milliarden Euro. Demnach würde Berlin seine Schulden wieder auf insgesamt fast 69 Milliarden Euro erhöhen. Angesichts der deutlich gestiegenen Wirtschaftsleistung und viel niedrigerer Zinsen im Vergleich zu 2001 gerät die Hauptstadt noch nicht in eine Schieflage.

»Wir müssen jetzt groß denken und nicht immer nur Löcher stopfen«, sagt SPD-Fraktionschef Raed Saleh zur Begründung. Auch die Linksfraktion findet es politisch verantwortungslos, »jetzt der Krise hinterherzusparen«. Carola Bluhm und Udo Wolf, die Fraktionsvorsitzenden der Sozialisten, erklärten: »Stattdessen schafft Rot-Rot-Grün die Voraussetzungen für eine antizyklische Konjunkturpolitik, mit der wir Arbeitsplätze retten und das Gemeinwesen stärken.«

Selbst die Grünen, die immer auf eine verantwortungsvolle und nachhaltige Haushaltspolitik pochen, sehen die Besonderheit der Coronakrise ein, die Berlin auch finanzpolitisch vor besondere Herausforderungen stelle. »Einer falschen Sparpolitik erteilen wir eine klare Absage und sorgen gleichzeitig dafür, dass künftige Generationen nicht übermäßig belastet werden«, sagten die Grünen-Fraktionschefs Antje Kapek und Silke Gebel.

Wegen der Schuldenbremse, die ab diesem Jahr gilt, dürfen die Bundesländer eigentlich gar keine neue Schulden machen, aber die Coronakrise ist ein klassischer »Ausnahmetatbestand«, der nun greift und das Verbot außer Kraft setzt. Während der Finanzsenator offenbar weiter darauf setzt, Bauprojekte aufzuschieben und nicht verbrauchte Personalmittel umzuwidmen, um Einsparungen zu erzielen, sieht man in den Bezirken der Zukunft entspannt entgegen.

Laut der am 20. Mai vereinbarten Eckpunkte zwischen den Bezirken und der Senatsverwaltung für Finanzen erfolgen »keine Eingriffe in die Haushalts- und Stellenwirtschaft der Bezirke«. Die große Sparorgie, die der Landesrechnungshof und der Bund der Steuerzahler fordern, wird es erst einmal so nicht geben.

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