Pop-up-Radwege polarisieren

Berlin findet in der Republik Nachahmer - doch manche Bezirke ziehen nicht mit

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach Bürgerprotesten ist inzwischen sogar die Autostadt Stuttgart eingeknickt und richtet Pop-up-Fahrradwege ein, auch München plant sie. Zum Europäischen Tag des Fahrrads an diesem Mittwoch fordert die Deutsche Umwelthilfe bundesweit eine beschleunigte Umwidmung von Autoverkehrsflächen für Zweiräder. »Die Menschen erobern die Städte mit ihrem Fahrrad zurück. Gerade jetzt während der Corona-Pandemie brauchen wir mehr Fahrradstraßen und Tempo 30«, sagt deren Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. »Während Paris, Mailand und Brüssel mutig das Auto aus der Innenstadt drängen und Fußgängern und Radfahrern mehr geschützten Raum schaffen, tasten sich erste deutsche Städte vorsichtig an den Radfahrerschutz heran«, bemängelt er.

Immerhin hatte Berlin, namentlich der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Ende März in der Republik den Aufschlag gemacht und das Netz der Pop-up-Radwege wächst sowohl dort als auch in anderen Bezirken. Im Pankower Ortsteil Prenzlauer Berg wurden auf der Danziger Straße von der Prenzlauer Allee bis knapp vor den Arnswalder Platz Autospuren in Radwege umgewidmet. Mitte führte den Kreuzberger Pop-up-Radstreifen am Schöneberger Ufer weiter. Und Charlottenburg-Wilmersdorf probiert sich daran auf Kant- und Neuer Kantstraße, wenn auch mit großen Umsetzungsschwierigkeiten. Diese rührten daher, dass dort die Regelpläne von vornherein nicht so umgesetzt wurden wie vorgesehen, heißt es von der Senatsverkehrsverwaltung.

Geplante Pop-up-Radwege in Berlin
Planungen und Vorschläge wurden von den Bezirken eingereicht für die Müllerstraße (Mitte), die Blaschkoallee und Teile der Hermannstraße (Neukölln), Teile von Adlergestell und Michael-Brückner-Straße (Treptow-Köpenick), den Innsbrucker Platz, Sachsendamm, Yorckstraße, Langenscheidtstraße, Säntisstraße, Kolonnen- und Schöneberger Straße (Tempelhof-Schöneberg), die Brandenburgische Straße, Kaiser-Friedrich-Straße, Luisenplatz, Lise-Meitner-Straße, Berliner Straße, Bundesallee und Hohenzollerndamm (Charlottenburg-Wilmersdorf). Lichtenberg prüft vier nicht näher benannte Straßenabschnitte. Das favorisierte gemeinsame Projekt ›Hansastraße‹ komme wegen fehlender Planungskapazitäten in Pankow nicht zu Stande, heißt es in einer Antwort der Verkehrsverwaltung auf eine Schriftliche Anfrage von Kristian Ronneburg, dem Verkehrsexperten der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. nic

Das wäre es dann gewesen, wenn nicht die Verwaltung von Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) am Freitag die Verlängerung der Anordnung bis Jahresende verfügt hätte. Ursprünglich war diese bis 31. Mai befristet. »Es besteht in allen Streckenabschnitten mit aktuell noch temporären Radfahrstreifen ein Bedarf für die sichere Führung von Radfahrenden«, heißt es in der Mitteilung. Zumal die Wege überarbeitet dauerhaft bleiben sollen.

Mit der Verlängerung der Frist können weitere Pop-up-Radwege umgesetzt werden (siehe Kasten). Zwei Millionen Euro stehen dafür laut Verwaltung zur Verfügung. »Wir gehen davon aus, dass wir mit diesem Volumen gemeinsam mit den Bezirken 30 bis 50 Kilometer provisorische Radfahrstreifen umsetzen können«, so Sprecher Jan Thomsen. Inklusive Kantstraße sind derzeit etwas über 22 Kilometer realisiert.

Nur Spandau, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf haben überhaupt keine Planungen. »Die haben einfach das Mobilitätsgesetz nicht gelesen oder verstanden. Es ist erstaunlich, dass demokratisch legitimierte Gesetze nicht befolgt werden«, sagt dazu Ragnhild Sørensen, Sprecherin des aus dem Radentscheid hervorgegangenen Vereins Changing Cities. »Wir erwarten auch ein klares Signal der Verkehrssenatorin an die Bezirke«, so Sørensen weiter.

»Wenn das zuständige Straßen- und Grünflächenamt selbst nicht in der Lage sein sollte, temporäre Radwege zu schaffen, sollte es schnellstmöglich ein Amtshilfeersuchen an den Senat oder einen anderen Berliner Bezirk stellen«, fordert Linke-Verkehrsexperte Kristian Ronneburg zusammen mit dem Marzahn-Hellersdorfer Linksfraktionschef Bjoern Tielebein von der zuständigen Stadträtin Nadja Zivkovic (CDU). Urlaubsbedingt war diese für »nd« nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Als erstes Projekt schlägt die Linke die Allee der Kosmonauten vor, die Bezirksgrünen fordern auch Radspuren für die Landsberger Allee.

Der jüngst in Friedrichshain-Kreuzberg eingerichtete Pop-up-Radweg auf der Frankfurter Allee bereitet dem Lichtenberger Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke) etwas Bauchgrimmen. »Und zwar nicht, weil der Autoverkehr auf dem Straßenzug B1/B5 eine Spur abgibt«, sagt er zu »nd«. »Sondern weil ich das Instrument Pop-up-Radwege für eine überbezirkliche Fahrrad-Schnellverbindung nicht für angemessen halte. Damit sollen nur Versäumnisse überdeckt werden.« Zudem werde die Bürgerbeteilung ausgehebelt. »Wenn die Senatsverkehrsverwaltung nicht in der Lage ist, ihre Planungszuständigkeit für die Hauptstraßen wahrzunehmen, dann will ich, dass Friedrichshain-Kreuzberg und Marzahn-Hellersdorf mit uns zusammen eine Planung dafür ausarbeiten«, lädt Grunst die Bezirke zur Zusammenarbeit ein. »Dass für Verkehrssenatorin Günther der Horizont am S-Bahnring aufhört, zeigt sich auch daran, dass für eine Radschnellverbindung entlang der Landsberger Allee die Planungen erst in drei Jahren aufgenommen werden sollen«, zeigt er sich verärgert.

Der Bedarf für eine schnellere Verbesserung der Radinfrastruktur ist gegeben. An den 16 in Betrieb befindlichen automatischen Zählstellen wurden im Mai dieses Jahres knapp 20 Prozent mehr Radler registriert als im Vorjahresmonat. Unter den Yorckbrücken hat sich die Zahl sogar mehr als verdoppelt. Gleichzeitig erreicht der Autoverkehr wieder fast Vor-Corona-Niveau, wie sowohl Zahlen der Verkehrsinformationszentrale als auch die Auswertung der Routenanfragen von Apple ergeben. Der öffentliche Nahverkehr verzeichnete demnach zuletzt 40 Prozent weniger Anfragen als vor Corona.

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