Wut damals, Wut heute

Antirassistisch und queer: In der legendären Christopher Street richtet sich der Protest gegen die örtliche Polizeibehörde NYPD.

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 4 Min.
Rassismus in den USA

Zwei-, vielleicht dreitausend Menschen blockieren die Christopher Street und die ans »Stonewall Inn« angrenzende Kreuzung zur 7th Avenue. Viele halten selbstgemalte Schilder und Transparente hoch. Sie fordern, der Polizei das Geld zu entziehen. »Fuck NYPD« heißt es schlicht auf anderen oder »Black Lives Matter« (Schwarze Leben zählen). Für eine Demonstration vor der legendären Kneipe im legendären schwulen Stadtviertel New Yorks sind ausgesprochen wenige Regenbogenfarben zu sehen. Die Farbe Schwarz bestimmt die Kleidung. Zum Feiern ist auch niemand zumute, die Stimmung ist ernst. Den wenigen, die keine Maske tragen, wird eine ausgehändigt. Cops sind noch keine zu sehen.

Es ist der sechste Tag der Proteste gegen Polizeigewalt in New York City: Ein Dutzend Demonstrationen und Kundgebungen sind über alle fünf Stadtteile geplant. In den beiden Nächten zuvor hatten im Windschatten der Massendemonstrationen Hunderte von Plünderern, darunter gut organisierte Gangs, versucht, Luxusgeschäfte, aber auch das riesige Kaufhaus »Macy’s« leer zu räumen – teilweise mit Erfolg. Inzwischen sind Hunderte von Geschäften in Manhattan mit Sperrholz verbarrikadiert, auch in der Christopher Street im West Village, wo vor 51 Jahren die Cops die Schwulenkneipe »Stonewall Inn« stürmten.

Die Aktion löste damals einen Aufstand aus, der fünf Tage und Nächte lang andauerte und als Auftakt für die Befreiungsbewegung für Menschen aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen gilt. Das »Stonewall Inn« ist auch an diesem Nachmittag Anziehungspunkt für radikale Proteste. »Pride is a riot!« heißt es in Schwarz auf einem weißen Transparent über dem Eingang, daneben der Hashtag BLM für »Black Lives Matter«. Den Auftakt für ihren Aktionsmonat haben die Betreiber des »Stonewall Inn« in den Dienst des Antirassismus gestellt.

Auslöser für die Stonewall-Kundgebung ist der Tod von George Floyd, thematisiert wird an diesem Nachmittag aber auch Gewalt gegen die schwarze Transgendergemeinde. Konkret geht es um das Andenken an die jüngsten Opfer: Nina Pop, eine schwarze Transgender-Frau, und Tony McDade, ein schwarzer Transgender-Mann. Pop war Anfang Mai in Missouri erstochen in einer Wohnung aufgefunden worden. McDade starb Ende Mai in Florida unter ungeklärten Umständen durch den Schuss aus einer Polizeiwaffe.

»Say his name«, ruft jemand, und die Menge antwortet »George Floyd, George Floyd, George Floyd«. Auf die Aufforderung »Say her name« folgt »Nina Pop, Nina Pop, Nina Pop«. Und schließlich wieder »Say his name« mit »Tony McDade, Tony McDade, Tony McDade«. Hunderte, die am Rand der Kundgebung stehen, raunen die Namen einfach nur mit. Die Sätze aus den Biografien der Ermordeten, die drüben am »Stonewall Inn« verlesen werden, sind aus der Entfernung nicht zu verstehen.

Für Alex Druness ist die Kundgebung das erste Zusammentreffen mit Menschen seit zweieinhalb Monaten. Wegen des Coronavirus hat sich der 24-Jährige erst jetzt aus seinem Kellerraum gewagt. Er habe seinen Job als Kellner verloren, klagt er unter seiner schwarzen Maske, und lebe vom Ersparten. Das reiche noch zwei Monate. Sein Freund sei »hustend, wahrscheinlich mit Coronavirus« Mitte April aus dem gemeinsamen Zimmer ausgezogen und seitdem verschwunden. Er selbst werde sich »irgendwie nach Kalifornien durchschlagen, wenn New York so eine Wüste bleibt«, sagt er. Damit meint er das Risiko, krank zu werden und ohne Krankenversicherung und Arbeit auf der Straße zu landen. »No future hier«, sagt er traurig. In San Francisco habe er Freunde »und wahrscheinlich einen Job, und die Cops sind nicht so eklig wie hier«.

Zwischendurch kommt an der 7th Avenue Jubel auf, wenn ein Auto- oder Busfahrer hupend und winkend entlangfährt. Dazu fordern Plakate auf. Menschen mittleren und höheren Alters bleiben solchen Versammlungen offenbar aus Sorge um die eigene Gesundheit fern. Ausnahmslos Jugendliche und junge Erwachsene sind zu sehen.

Teena will ihren Nachnamen nicht nennen. Sie sei »zwischen 20 und 30«, grinst sie, »und jeden Tag gegen die Cops auf der Straße«. Die untersetzte Afroamerikanerin hat sich die Haare abrasiert. Auf einen Karton hat sie »All Black Lives Matter« gemalt. Die Gewalt gegen schwarze Transgender-Menschen sei »auch in unserer afroamerikanischen Community ein Tabuthema«, klagt Teena. Sie stamme aus einer sehr religiösen christlichen Familie in Philadelphia. Ihr Lesbischsein habe sie zu Hause nicht leben können. Mit dem Satz »Fuck religion and fuck the cops« verabschiedet sie sich.

Die Kundgebung geht zu Ende. Aus ihr wird eine Demonstration. Inzwischen haben sich recht locker stehende Polizisten an einer Straßenseite aufgebaut. Den Verkehr abzuriegeln brauchen sie nicht. Denn die Hochhausschluchten von Manhattan werden seit Mitte März kaum befahren. In einer Seitenstraße steigt eine Gruppe Robocops gemächlich aus einem Mannschaftsbus aus.

Die Demonstration wandert Richtung Midtown. »Mal sehen, wie weit wir kommen«, sagt jemand. »No justice, no peace«, lautet ein Ruf, in den Dutzende einstimmen. Und wenn sich wieder Polizisten blicken lassen, dann ertönt: »How do you spell racist – NYPD«. Wie sich die Beamten der größten Polizeibehörde der Welt verhalten werden, wenn der Uhrzeiger Richtung 20 Uhr rückt, wenn die Ausgangssperre einsetzt, ist unklar. Sicher ist: »Whose streets? Our streets!« wird dann den Cops entgegengerufen.

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