Militärs könnten Abstand lernen

USA setzen Großmanöver »Defender 2020« fort – Russland will auf Übungen an seiner Westgrenze erst einmal verzichten

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit dem 16. März standen die Panzer in Polen still. Die Großübung »Defender 2020«, bei der die USA und andere Nato-Staaten über 20 000 Soldaten - so viel wie noch nie seit Ende des Kalten Krieges - nach Osteuropa verlegten, musste vor Corona kapitulieren. Doch jetzt geht es wieder los. Zunächst auf dem polnischen Truppenübungsplatz Drawsko Pomorskie. Man müsse gewappnet sein, sagen die Militärs, denn: Am 1. Oktober 2021 beginnt ein Krieg in Europa.

Letzteres ist (vorerst) nur der fiktive Inhalt einer Studie. Die jedoch stammt von dem durchaus ernst zunehmenden US-Thinktank »International Institute for Strategic Studies« (IISS). Politik- und Militärexperten haben sie vor rund einem Jahr unter dem Titel »Defending Europe« entworfen. Danach werden zuerst litauische und polnische Regierungs-, Medien- und Militärnetzwerke angegriffen. Russische Truppen rücken in die kleine baltische Republik ein. Luftlandeeinheiten besetzen Schlüsselstellungen, aus Belarus stößt eine verstärkte motorisierte Division vor. Mit kühnem Schachzug wird der Flughafen Kaunas besetzt, Transportmaschinen spucken und Material aus.

Die östliche Ostsee wie der Himmel über dem Kampfgebiet gehören den Angreifern. Die Kampfjets der Nato-Air-Policing-Mission sind zerstört. Auch die im Rahmen der »Enhanced Forward Presence« stationierten Nato-Bodentruppen werden attackiert. Nur ein kleiner Teil kann sich nach Lettland absetzen, die meisten der von Belgien, Kroatien, der Tschechischen Republik, aus Deutschland, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen entsandten Soldaten sind tot oder in Gefangenschaft. Polnische Freiwillige eilen zum Kampf nach Litauen. Warschaus Truppen versuchen Gegenangriffe an der Suwalki-Lücke. Russland verstärkt seine Attacken. Der UN-Sicherheitsrat ist nicht in der Lage, sich auf eine Position zu einigen.

Bereits am 2. Oktober hatte die Nato - laut Studie - auf Grundlage des Artikels V des Beistandsstatus die Schnelle Eingreiftruppe losgeschickt und Russland ein Rückzugsultimatum gestellt. Die Wirkung? Gleich null. In Warschau wird eine litauische Exilregierung eingesetzt, in Litauen nimmt eine Übergangsverwaltung unter russischer Aufsicht die Arbeit auf.

Und was machen die USA? Das fiktive IISS-Planspiel geht davon aus, dass der gerade wiedergewählte Präsident Donald Trump kein Interesse mehr an der Nato hat. So wie Trump auf die mit Russland getroffenen Sicherheitsverträge pfeift, so eiskalt geht der Egoman, der »sein« Militär gerade sogar gegen das eigene Volk schickt, über Verpflichtungen gegenüber europäischen Bundesgenossen hinweg.

Trumps geostrategisches Ziel ist China. Der Nato bietet er Waffenhilfe gegen Cash an. Er trifft sich mit Russlands Präsident Wladimir Putin in Belgrad, um das »Europa-Problem« zu lösen. Unter Druck seiner Verbündeten stimmt Polen einem Waffenstillstand entlang einer Sicherheitszone zu, die von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa überwacht werden soll. Es reicht ...

Man kann - auch ohne in den Verdacht der »Russenfreundlichkeit« zu geraten - jede Menge sachlich-kritische Bewertungen für dieses Szenario finden; man kann es absurd und realitätsfern nennen und warnen, dass derartige Studien den Ost-West-Konflikt anheizen. Aber: Sicherheitspolitische Fantasien wie die vom IISS bestimmen politisches Denken und Handeln. Gerade in Polen, das insbesondere ab 1939 leidvolle Erfahrungen in Sachen verlässlicher Bündnistreue gemacht hat, sind politisch Verantwortliche dazu allzu schnell bereit. Und so verlässt sich Polen - auch schon bevor die nationalkonservative PiS-Partei ans Ruder kam - nicht nur auf die Verträge mit der EU und der Nato, sondern fördert aktiv Sonderwege.

Warschau versucht, die strategische Neuausrichtung der USA, die schon unter Präsident Barack Obama spürbar war, zu nutzen, um engere bilaterale Militär- und Rüstungsverbindungen mit den USA zu schaffen. Man will so die eigenen sicherheitspolitischen Fähigkeiten stärken und indirekt auch mehr Druck auf die Politik der EU aufbauen. Letzteres wird unter anderem im von Trump unterstützten Kampf Polens gegen das Nord-Stream-Erdgasprojekt deutlich.

Erste Hinweise auf die Sonderbeziehungen zwischen Polen und den USA zeigten sich bereits bei Trumps Warschau-Besuch vor drei Jahren, bei dem der US-Präsident dem polnischen Nationalismus huldigte. Warschau revanchierte sich mit dem Angebot der dauerhaften Stationierung einer US-Division. Die Kosten würde Polen tragen, wo man nicht nur scherzhaft von einem »Fort Trump« sprach. Systematisch baute Polen an seiner Ostgrenze Depots auf, in denen die US-Streitkräfte schweres Material, Treibstoffe, Munition und mehr einsatzbereit lagern. Nur die Besatzungen müssen eingeflogen werden.

Polen kauft im Zuge der ersten Phase des Aufbaus eines eigenen Luftabwehrsystems US-amerikanische Patriot-Raketensysteme, rüstete seine Geschwader mit F-16-Jets aus, entschied sich für das US-Raketenartilleriesystem HIMARS und bestellte im Rahmen der bis 2026 geplanten Streitkräftereform teuerste Waffensysteme. Beispiel: F-35. Die Stealth-Flugzeuge können Atomwaffen tragen. In Warschau registriert man überdies Berliner Debatten, die sich gegen die Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland richten. Polen könnte einspringen. Nicht von ungefähr übte seine Luftwaffe bereits im Nato-System der nuklearen Teilhabe. Strategisch bedeutsam für die USA ist auch der Bau einer US-Basis für ballistische Raketenabwehr im westpolnischen Redzikowo.

Eine wichtige Komponente der bilateralen Militärkooperation sind gemeinsame Übungen. Zwischen Januar und Juni 2020 war »Defender Europe 2020« geplant. Man wollte Moskau zeigen, wie rasch und massiv US-Truppen an Russlands Grenzen verlegt werden können. Doch der größte US-Aufmarsch seit 25 Jahren, zu dem 20 000 GIs aus den Staaten geholt und quer durch Europa verlegt wurden, traf auf die Corona-Pandemie.

Also alles vorbei und vergessen? Und gilt das auch für die mit »Defender« gekoppelten Übungen »Allied Spirit XI« und »Trojan Footprint«? Nein. »Allied Spirit« läuft gerade an. Gemeinsam mit weiteren geplanten Ausbildungsmaßnahmen wurde es zu »Defender Europe 2020 Plus« erhoben. Was vor allem Russland nicht gefallen kann. Moskau warnte die USA und die anderen Nato-Staaten vor übermäßigem Säbelrasseln. Der Chef der Hauptverwaltung für Operatives im russischen Generalstab, General Sergej Rudskoj, betonte, die USA und ihre Verbündeten würden mit ausgedachten Gefahren einer russischen Aggression das System der Sicherheit in Europa weiter untergraben. Sein Land dagegen wolle bis Ende des Jahres auf Manöver entlang der Grenzen zu Nato-Staaten verzichten.

Sicher auch wegen der Corona-Pandemie, aus der man auch sicherheitspolitisch etwas lernen könnte. Beispielsweise das Abstandsgebot. Um bestehende Spannungen abzubauen, so schlug General Rudskoj vor, könnte man generelle Regeln über Mindestabstände zwischen militärischen Flugzeugen und Schiffen beider Seiten vereinbaren.

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