Man durfte nicht jung sein

Der Film »Freie Räume« erinnert an die Jugendzentrumsbewegung im Westdeutschland der Siebziger Jahre.

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Als die Jugendlichen mehr Zeit bekamen, wollten sie diese auch für sich nutzen. »In den ›langen 1960er Jahren‹ verlängerte sich auch für Jugendliche die freie Zeit jenseits von Schule und Betrieb«, erklärt der Soziologe David Templin in seiner Untersuchung über die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, »Freizeit ohne Kontrollen«. In der neuen Massenkonsumgesellschaft »war es nicht nur zu ökonomischen, sondern auch zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gekommen.«

Lebensweisen und politische Einstellungen hatten sich seit den 1950ern liberalisiert. Immer mehr Jugendliche besuchten Gymnasien, wodurch sich die Ausbildungszeiten verlängerten. Eine Folge dieser gesellschaftlichen Veränderungen war die Forderung von Jugendlichen nach Freiräumen, in denen sie ihre Freizeit jenseits der Kontrolle der Elterngeneration selbst gestalten konnten. Es entstanden an zahlreichen Orten lokale Netzwerke von Jugendlichen, die für »Freizeit ohne Kontrollen« auf die Straße gingen und »Selbstverwaltung als Demokratie in Praxis« - so ein Demoslogan aus Mainz - von der Politik einforderten.

Der Mannheimer Regisseur Tobias Frindt hat dieser heute etwas in Vergessenheit geratenen Bewegung mit dem Film »Freie Räume. Die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung«, der nun auf DVD erschienen ist, ein Denkmal gesetzt. Historisches Filmmaterial, zum größten Teil von jugendlichen Aktivisten in Mannheim und Mainz selbst produziert, steht neben Aufnahmen aus gegenwärtigen Jugendzentren. Außer dem Wissenschaftler David Templin kommen auch zahlreiche frühere Aktivistinnen und Aktivisten zu Wort, die über ihre Kämpfe gegen konservative Kleinstadtpolitiker sprechen, über die Verbindungen zur Hausbesetzerszene und über die Krise der Jugendzentrumsbewegung ab Mitte der 1970er.

Vor 1970 waren es vor allem Jugendverbände und die Jugendpflege, die sich um die Jugend kümmerten; neben Sport, Jugendfreizeiten, Pfadfindern und kirchlichen Aktivitäten war allerdings dadurch nicht viel Angebot vorhanden. Aber mit der wachsenden Freizeit von Jugendlichen stiegen die Erwartungen an die Gestaltung dieser Freiräume, es entstanden neue Bedürfnisse, die von den Jugendverbänden nicht mehr gedeckt werden konnten. »Die Jugendzentrumsbewegung war eine Reaktion auf die Verbotshaltung der Gesellschaft«, erklärt im Film Werner Schretzmeier, ein ehemaliger Jugendzentrumsaktivist im Juz »Hammerschlag« in Schorndorf. »Man durfte einfach nicht jung sein.«

Daher entstanden in den frühen 1970ern, oft in Verknüpfung mit der Lehrlingsbewegung und angefeuert von der Studentenbewegung, zahlreiche Initiativen, vor allem in der Provinz der BRD. »In jedem dritten Kaff gab’s so eine Bewegung«, erinnert sich der Musiker Bernd »Schlauch« Köhler aus Mannheim. Diese Initiativen waren nicht alle explizit politisch, sondern kämpften zunächst einmal um Freiräume für die Freizeit. Allerdings haben politische Jugendorganisationen wie die Jungsozialisten, die SDAJ oder die der K-Gruppen häufig eine zentrale Rolle gespielt, die die Selbstorganisation als Akt der Befreiung von Fremdbestimmung und die Selbstverwaltung in den Mittelpunkt rückten. »Was wir in der Arbeit, im Beruf machen, bestimmen die Chefs. Was wir im Fernsehen, im Kino sehen, bestimmt die Filmindustrie. Also dürfen wir wählen zwischen den Leuten, die uns bestimmen. Wann versuchen wir endlich, unser Leben selber zu bestimmen?«, hieß es kämpferisch auf einem Flugblatt für ein Jugendzentrum aus jener Zeit. »Ein grundlegend antifaschistisches Verständnis war von vornherein da«, ergänzt Bernd Köhler. »Und das Antikapitalistische im Hinterfragen dieses Systems.«

Aus diesem Gemisch aus Antifaschismus und Antikapitalismus, der Sehnsucht nach politischen und kulturellen Freiräumen oder einfach Orten für ein Bier am Abend ohne den kontrollierenden Blick der Eltern entstanden in den 1970ern Hunderte selbstverwaltete Jugendzentren. Einige mussten hart erkämpft werden, andere wurden von der Lokalpolitik unkompliziert zur Verfügung gestellt. Ab etwa 1975 geriet die Bewegung in eine Krise, kommunale Vertreter nahmen unter dem Vorwand einer »linken Unterwanderung« der Zentren und des Vandalismus ihre anfängliche Offenheit wieder zurück, viele Orte der Selbstverwaltung wurden wieder geschlossen.

Der Film von Tobias Frindt spannt einen großen Bogen bis in die Gegenwart, wo politische Akteure wie die AfD oder die NPD gegen linke Jugendzentren agitieren und »freie Räume« wie das AJZ Leisnig in Sachsen direkt bedrohen. Auch das Juz Mannheim ist in den 1990ern immer wieder von Rechten angegriffen worden. Anderswo sorgen politische Entscheidungsprozesse für Schwierigkeiten, indem etwa Fördergelder für die Jugendzentren ausbleiben. Frindt zeigt, dass angesichts der neuen Bedrohung von rechts die »Freizeit ohne Kontrollen« in den Jugendzentren wichtiger ist denn je. »Gerade wenn du Punk auf dem Dorf warst«, erinnert sich Mal Élevé von der Band Irie Révoltés an die Bedeutung des Juz Mannheim für seine eigene Politisierung in seiner Jugend. »Ein Ort, wo du einfach hingehen kannst, wo alle ähnlich drauf sind, wo Konzerte sind, und dann haben wir mitgekriegt, da gibt’s einen Infoladen, fette Bücher, Buttons, T-Shirts.«

Obwohl der Film die gegenwärtige Notwendigkeit von Orten wie dem Juz Mannheim oder dem AJZ Leisnig erklären kann, verliert er im Versuch, einen großen Bogen von 1970 bis in die Gegenwart zu spannen und die unterschiedlichen Kämpfe dieser 50 Jahre deutscher Gegenkulturgeschichte abzubilden, ein wenig den roten Faden. Der genaue Blick auf die historischen Kämpfe gegen die Elterngeneration in den Siebzigern, gegen Kontrollen und Zwänge, für freie Räume und Selbstbestimmung, der den größten Teil des Films »Freie Räume« einnimmt, entschädigt jedoch für diesen einzigen Schwachpunkt. Die DVD, die der Regisseur selbst produziert hat und vertreibt - eine Fähigkeit, die er sich vermutlich in seinen Jahren als Aktivist im Juz Mannheim selbst erworben hat -, ist mit umfangreichem Bonusmaterial ausgestattet.

»Freie Räume. Die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung«. Dokumentarfilm, Deutschland 2020. Regie: Tobias Frindt. 101 Min., freieraeume-film.de

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