Ranger für den Großstadtdschungel

Als erste Metropole Deutschlands setzt Berlin Naturbeauftragte im Stadtgebiet ein.

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 5 Min.

Nur wenige Minuten nachdem wir aus dem Auto ausgestiegen sind, fühle ich mich schon wie ein Jäger auf der Pirsch. Dicht hinter Stadtnatur-Ranger Frank Schneider laufe ich durch das brusthohe Getreide. »Na, wie fühlt sich das an?«, fragt er grinsend. »Sehr angenehm«, höre ich mich sagen und ergänze, »wie die Ähren so über meine Haut streifen.« Als das Feld zu Ende ist, stoßen wir auf einen kleinen Tümpel - fast ohne Wasser. Viele Wasserstellen sehen derzeit wegen der anhaltenden Trockenheit so aus.

»Schau, da hinten ist ein Fuchsbau«, raunt Schneider und zeigt auf einen Holunderbusch am Ufer: »Da sind im Moment junge Füchse, aber wir wollen sie nicht stören.« - »Bisher wissen wir, dass es mindestens ein Jungtier ist«, ergänzt Mira Langrock, wie Schneider seit Anfang dieses Jahres als Stadtnatur-Rangerin in Berlin-Lichtenberg angestellt: »Aber gleich auf der Wildtierkamera werden wir sehen, ob es vielleicht doch mehr sind.« Wir befinden uns am Wartenberger Luch. »Wie heißt der Tümpel?«, frage ich, um mein Notizbuch zufriedenzustellen. »Ackersoll 2«, weiß Langrock.

Seit Ende Mai sind die Stadtnatur-Ranger*innen der Stiftung Naturschutz im Rahmen eines zweijährigen Modellprojekts offiziell in Berlin unterwegs. Zum einen sollen sie auf ihren Touren naturschutzrelevante Fakten vor Ort aufnehmen und zum anderen das Verständnis von Großstädter*innen wie mir für die urbane Flora und Fauna verbessern. Zwei Millionen Euro kostet das Projekt den Senat jährlich. Bisher sind zwölf Ranger*innen in sechs Bezirken unterwegs, nach und nach sollen es 25 werden. »Wertschätzung für Biodiversität und Stadtgrün zu vermitteln« und »Freude an der städtischen Natur zu wecken«, das seien die Ziele des Projekts, so Umweltsenatorin Regine Günther (Grüne).

Rangerin Mira Langrock hat Ökologie, Evolution und Naturschutz in Potsdam studiert. Später baute sie das Artenfinder Serviceportal Berlin auf, eine Onlineplattform, auf der Bürger*innen Fotos von Wildtieren hochladen können. Ihr Kollege Schneider hat Forstwirtschaft studiert und als Baumkontrolleur gearbeitet. »Nun habe ich auf die richtige Seite gewechselt«, freut er sich, dass es bei seiner Arbeit nicht mehr um das Fällen von Bäumen, sondern um das Bewahren der städtischen Natur geht.

Wir lassen Ackersoll 2 links liegen und kämpfen uns weiter durch tiefes Gras in Richtung einer Baumreihe, bücken uns unter den Ästen durch, und plötzlich sind wir in einer anderen Welt. Hier ist es dunkel, kühl, windstill und geschützt. Der Boden ist plattgetrampelt, Plastikteile und Papierfetzen liegen auf der Erde. Frank Schneider öffnet das Zahlenschloss der Wildtierkamera: »Hier drin ist richtig Action. Mäuse, Käfer, Spinnen. Aber sicher auch größere Tiere. Das werden wir gleich sehen.« Mira Langrock erklärt: »Die Kamera haben wir an einem sogenannten Zwangswechsel installiert. Tiere müssen hier lang, wenn sie durch die Hecke wollen.«

Wir begutachten die Bilder: 11.46 Uhr sitzt eine Nachtigall vor der Linse, 4.50 Uhr quetscht sich ein Reh an der Kamera vorbei, wenig später ein Fuchs. Dann sehen wir einen geringelten Schwanz. Die beiden Stadtranger schauen sich an. Katze oder Waschbär? Sie sind unsicher. Sicher ist allerdings, dass 8.49 Uhr ein Fasan durch die Hecke stolziert. Und wenige Stunden zuvor die Füchsin und zwei Junge vor der Kamera tollten - jetzt ist klar: Es sind zwei Junge, nicht nur eins. »Wir wollen zeigen, welchen Wert Hecken haben«, erklärt Mira Langrock. Vier Wildtierkameras haben die Ranger*innen dafür in Lichtenberg installiert.

Frank Schneider montiert die Kamera wieder am Stamm, im Hintergrund zwitschert die Nachtigall. Wir verlassen die Hecke und fahren Richtung Wartenberger Feldmark, an die Grenze zu Brandenburg. Felder, Weiden, Hecken, eine Rinderherde grast in aller Ruhe, hinter einer Baumgruppe ist der Fernsehturm zu sehen. Ein Kleines Wiesenvögelchen, eine Schmetterlingsart, flattert vorbei. Während sich ein rot-schwarzer Gemeiner Weichkäfer auf einem Grashalm niederlässt, streift ein Windhauch durch die Blätter.

Was historisch gewachsen aussieht, haben Senat und Bezirk seit dem Jahr 2000 hier quasi künstlich angelegt. Insektensterben? Nicht hier! Man merkt, Langrock und Schneider sind in ihrem Element, alle paar Schritte bleiben sie stehen, zeigen auf das eine oder andere Insekt. »Da! Ich höre die Feldlerche singen«, sagt Langrock und zeigt wenig später auf die Verspinnungen der Gespinstmotte. Schneider erklärt: »Genau das wollte ich machen. Als Stadtnatur-Ranger fühle ich mich endlich angekommen.«

Schließlich erreichen wir den Annenpfuhl. »Hier wollen wir Larven bestimmen«, erklärt Langrock. Das hatten sie bereits vor einigen Tagen versucht, allerdings waren die Larven da noch zu klein. Schneider und Langrock lassen die Kescher ins morastige Wasser sausen. »Ich hab eine! Hier noch eine!«, ruft Schneider. Mira Langrock hält die Larve in der Hand. »Leider keine Rotbauchunke«, stellt sie fest. »Das sieht man an dem Fischgrätenmuster an der Flosse. Wir hatten gedacht, es könnten Rotbauchunken sein, die geschützt sind, aber das sind eindeutig Knoblauchkrötenlarven.« Eilig notiert sie den Befund in ihrer Kladde und schießt noch ein Handyfoto. Dann können die Larven zurück ins Wasser. »Jetzt bin ich selig«, sagt Langrock, »weil ich weiß, was es ist. Auch wenn es keine seltene Rotbauchunke ist.«

»Mann, hab ich einen Hunger«, sagt Frank Schneider schließlich und bläst damit zum Rückweg. Es ist Freitagnachmittag, das Wochenende ruft. Ideen für die Zukunft haben die beiden noch viele. Vor allem wollen sie, sobald sich die Corona-Situation entschärft hat, verstärkt an Schulen und Kitas herantreten und in Bildungsveranstaltungen die Berliner Natur erklären.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!