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Zelte, Fackeln, Waffen
Militante Fans von Brasiliens Präsident stilisieren sich zu einsamen Kämpfern gegen das »Establishment«
»Hallo, wir sind die 300 aus Brasilien - das weltweit größte Camp gegen Korruption und die Linke«, sagt Sara Fernanda Giromini zu Beginn des einminütigen Clips. Wer bereit sei, »Blut, Schweiß und Schlaf« für Brasilien zu opfern, könne sich der Gruppe anschließen. Das mit dramatischer Musik unterlegte Video wurde am 23. April hochgeladen und seitdem über 50 000 Mal geklickt.
Giromini, besser bekannt als Sara Winter, ist eine der widersprüchlichsten Figuren der brasilianischen Rechten. Seit Anfang Mai führt die 27-Jährige die Gruppe »300 aus Brasilien« an. Diese hatte vor etwa einem Monat im Regierungsviertel der Hauptstadt Brasília ein Camp aufgeschlagen. Ihre Anhänger*innen sind radikale Unterstützer*innen von Präsident Jair Bolsonaro. Für die einen ist die Gruppe so etwas wie eine konservative soziale Bewegung. Für die anderen eine paramilitärische faschistische Miliz.
Diese Recherche entstand in Kooperation des nd-Redakteurs Niklas Franzen mit dem nd-Medienpartner Agência Pública. Das investigative Online-Medium wurde 2011 von einer Gruppe Journalistinnen in São Paulo gegründet. Es ist die erste unabhängige Agentur für Investigativjournalismus in Brasilien. Seit ihrer Gründung sitzen ausschließlich Frauen in der Chefredaktion. Mehrere Recherchen von Agência Pública gewannen in den letzten Jahren wichtige Journalistenpreise.
Andrea Dip ist Journalistin und arbeitet seit acht Jahren als Redakteurin bei Agência Pública. Sie schreibt vor allem über feministische Themen und die christliche Rechte in Brasilien. Außerdem veröffentlichte sie ein Buch über die Evangelikalen-Lobby im Parlament und gibt Kurse zu investigativem Journalismus.
Am Samstag hat die Polizei das Camp aufgelöst. Ein Polizist setzte Pfefferspray gegen Gruppenmitglieder ein, die sich noch auf der Esplanade zwischen den Ministerien aufhielten. Winter forderte auf Twitter eine Reaktion Bolsonaros. Unter Winters Führung durchbrachen rund 20 Personen am Samstagnachmittag die Absperrung um den Kongress und wollten diesen stürmen. Sie wurden von Sicherheitskräften gestoppt.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Gruppe und stuft sie als bewaffnete Miliz ein. Tatsächlich marschierten Mitglieder im Stil des Ku-Klux-Klan mit Fackeln durch Brasília. Im Netz drohten sie politischen Gegnern offen mit Gewalt. Und Gründerin Winter gab in einem Interview mit der BBC zu, dass Bewaffnete Teil der Gruppe seien. »Zum Schutz der Mitglieder«, wie sie betonte.
Name und Ästhetik der Gruppe, die sich als »Retter der Nation« bezeichnet, sind an den Hollywood-Film »300« angelehnt. Der Blockbuster von Regisseur Zack Snyder kam 2006 in die Kinos und beruht auf Graphic Novels von Frank Miller und Lynn Varley, in denen es um die antike Schlacht bei den Thermopylen 480 vor Christus geht. 300 Spartaner, angeführt von König Leonidas, stellten sich damals den Überlieferungen zufolge einem Heer von 30 000 persischen Soldaten entgegen, die Sparta erobern wollten. Der Film wurde in Europa wegen Gewaltverherrlichung und einer »Riefenstahl-Ästhetik« heftig kritisiert.
»Wir haben diesen Film wegen des Kampfgeistes ausgewählt«, sagte Desire Queiroz dem »nd«. Queiroz ist wie Winter Mitgründerin der »300 aus Brasilien« und radikale Abtreibungsgegnerin. »Der Film zeigt, dass eine kleine Gruppe gegen eine Übermacht erfolgreich sein kann.« Das passt in das Narrativ der Bolsonaro-Unterstützer*innen. Sie wittern eine Verschwörung der Justiz, des Kongresses und der Medien gegen »ihren Präsidenten«, den sie zum einsamen Kämpfer gegen ein korruptes Establishment stilisieren.
In Europa beziehen sich extrem rechte Gruppen schon länger auf den Film »300«. Die Schlacht bei den Thermopylen erheben sie zum Symbol für den derzeitigen Kampf der »wahren Europäer« gegen Geflüchtete. Im Film schickt König Leonidas seine Armee in den Tod, um die Nation vor der Invasion zu retten. »Dieser Aufopferungsdiskurs und der gewaltsame Widerstand gegen vermeintliche Eindringlinge findet sich in der Propaganda der Identitären Bewegung wieder«, sagt die deutsche Journalistin Carina Book. Die rassistische Bewegung spielt in ihrem Logo, einem Lambda in einem Kreis, auf Spartas Soldaten an, deren Schilde der elfte Buchstabe des griechischen Alphabets geziert haben soll. Bei einem Karnevalsumzug verkleideten sich Identitäre 2017 als Spartaner, in Reden beziehen sich Mitglieder der Bewegung häufig auf »die 300«. Auch das rigide Erziehungssystem Spartas, die Agoge, findet regelmäßig Erwähnung in Publikationen der Identitären.
Auch allgemein beziehen sich alte und neue Nazis in Europa gern auf das antike Griechenland. In Neonazi-Onlineshops kann man T-Shirts mit Spartaner-Aufdruck bestellen, Hermann Göring verglich im Januar 1943 den Kampf um Stalingrad mit der Schlacht bei den Thermopylen. Der Kampf- und Aufopferungsdiskurs ist auch bei den »300 aus Brasilien« wiederzufinden. Auf Twitter schreibt die Gruppe: »Der Soldat zieht in den Krieg. Wer Angst hat zu sterben, ist ein Feigling.«
Queiroz streitet zwar ab, dass europäische Gruppen die Gründung der »300 aus Brasilien« beeinflussten. Doch neben der Sparta-Referenz gibt es weitere Parallelen zu europäischen Rechtsradikalen. Identitären-Expertin Carina Book sagt, das Mobilisierungsvideo der »300 aus Brasilien« ähnele mit seinem Aufrufcharakter, den Nahaufnahmen und der dramatischen Musik den Propagandaclips der Identitären. Wie sie haben die Brasilianer*innen den Schlachtruf »Ahu« aus dem Film für ihre Aktionen übernommen. Außerdem ruft die Gruppe zu »zivilem Ungehorsam« und sogar zur »Revolution« auf. Diese Rhetorik ist untypisch für die brasilianische Rechte, ebenso wie Protestcamps, Agitprop-Aktionen und die Inszenierung in sozialen Netzwerken. Dies erinnert vielmehr an die »metapolitischen« Aktionen der Neuen Rechten in Europa.
Insbesondere der paramilitärische Charakter der »300 do Brasil« bereitet vielen Beobachter*innen Sorgen. Die Aktivist*innen bezeichnen sich als »Soldaten«, es wird in militärischer Formation aufmarschiert. Im gerade aufgelösten Camp wurde strenge Disziplin eingefordert. In einem Video stellt Winter klar, das Camp sei »keine Ferienkolonie«. Wer die Füße hochlegen und Selfies machen wolle, solle gar nicht erst anreisen. Es herrschte Foto-und Videoverbot, eine »angemessene Kleidung für den Kampf« wurde vorausgesetzt. Körperliches Training und Vorträge über die Situation in Brasilien seien Teil der Ausbildung, heißt es im Video. An die Abstandregeln wegen der Coronapandemie halten sich die Mitglieder nicht - wie ihr Vorbild Bolsonaro. Über einen Spendenaufruf im Internet hat die Gruppe Geld gesammelt. Den »300« werden Verbindungen zu hochrangigen Politiker*innen wie der Bundesabgeordneten und Bolsonaro-Verbündeten Bia Kicis nachgesagt.
Informationen werden in einer Telegram-Gruppe ausgetauscht. Dort heißt es unter anderem: »Werde Teil der Armee, die die Linke und Korruption vernichtet.« Mitgründerin Queiroz verteidigt die Wortwahl. »Diese Aussagen sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Wir wollen die Linke mit Argumenten vernichten.« Sie behauptet, alle Aktionen der Gruppe seien gewaltfrei und verteidigten die Demokratie.
Die linke Journalistin Sabrina Fernandes sieht das anders. Es bestehe die Gefahr, »dass es diese Gruppe schafft, die Wählerbasis des Präsidenten weiter zu radikalisieren«, sagt sie. »Das wird zu einer Verschärfung der Konflikte und der praktischen Umsetzung einer faschistischen Ideologie führen.« Unterstützer*innen Bolsonaros schreckten generell nicht vor Gewalt zurück, so Fernandes: »Zwei Fans des Präsidenten attackierten Anfang Mai Krankenpfleger*innen, die in der Hauptstadt protestiert hatten. Mitte Mai wurde ein Fotograf während der Arbeit von einem Mob verprügelt. Nach Angriffen und Anfeindungen auf Reporter*innen erklärten drei der größten Medienhäuser sogar, ihre Berichterstattung vor dem Präsidentenpalast vorübergehend einzustellen.« Die Journalistin geht davon aus, dass gewalttätige Bolsonaro-Anhänger*innen, nicht nur von der Hetze des Präsidenten, sondern auch durch Radikale wie die »300 do Brasil« angestachelt wurden.
300-Führungsfigur Winter, die auf Interviewanfragen nicht reagierte, hat viele Verbindungen zu extrem rechter Ideologie - auch wenn sie dies öffentlich abstreitet. Es wird vermutet, dass der Name Sara Winter eine Anlehnung an die britische High-Society-Dame Sarah Winter ist, die in den 1930er Jahren Mitglied der faschistischen Partei British Union of Fascists und Spionin der Nazis war. Winter behauptet, der Name sei von einer Sängerin inspiriert.
In sozialen Medien hatte Winter in der Vergangenheit mehrfach ihre Bewunderung für den brasilianischen Faschisten Plínio Salgado bekundet, war auf Fotos bei Neonazikonzerten zu sehen und soll ehemaligen Mitstreiter*innen von ihrer Verehrung für Adolf Hitler berichtet haben. Auf der Brust hatte Winter lange ein Eisernes Kreuz tätowiert, ließ es sich jedoch überstechen. Ein Foto auf dem Instagram-Profil der »300« zeigte Winter zuletzt mit Totenkopfmaske. Es ist die gleiche, die auch von Mitgliedern der neofaschistischen Terrororganisation »Atomwaffen Division« und weißen Rassisten in den USA getragen wird. »Die Totenkopfmaske ist zu einem universellen Anerkennungszeichen von Faschisten geworden«, schreibt der britische Journalist Jake Hanrahan auf Twitter.
Winter wurde in ihrer Jugend Opfer familiärer Gewalt, war drogenabhängig und arbeitete als Sexarbeiterin. Zu Beginn ihrer politischen Karriere war sie in feministischen Kreisen aktiv. Im Jahr 2012 reiste die 27-Jährige für ein »Training« in die Ukraine und gründete danach in Brasilien einen Ableger der feministischen Gruppe Femen. Winter sprengte mit freiem Oberkörper Veranstaltungen, war Gast in Fernsehshows und entwickelte sich schnell zum Gesicht der Bewegung. 2014 organisierte sie einen Protest gegen den damaligen Abgeordneten Bolsonaro mit. In sozialen Medien zirkuliert ein Foto, auf dem Winter und eine Mitstreiterin zu sehen sind, wie sie eine Bolsonaro-Puppe kastrieren.
Doch Sara Fernanda Giromini alias Sara Winter überwarf sich bald mit Femen. Nach einer Abtreibung nannte sie sich »Ex-Feministin«, und ab 2015 trat sie als radikale Christin und Abtreibungsgegnerin in Erscheinung. Ein Jahr später war sie an der Seite Bolsonaros in einem Video zu sehen, in dem sie erklärte, endgültig vom Feminismus »geheilt« zu sein.
Bei der Wahl 2018 ließ sich Winter für eine Mitte-rechts-Partei aufstellen, holte aber nicht genug Stimmen, um in den Kongress einzuziehen. Doch sie sollte dennoch einen Posten in der Hauptstadt Brasília ergattern. Von der Ministerin für Menschenrechte, der evangelikalen Pastorin Damares Alves, wurde sie in das Frauensekretariat berufen. Doch auch dort blieb sie nicht lange.
Nun macht Winter als rechte Aktivistin und treue Unterstützerin von Bolsonaro von sich reden. Bereits Anfang Juni hatten bei ihr und weiteren prominenten Verbündeten des Präsidenten Razzien statt. Der Vorwurf: Eine Gruppe »Kabinett des Hasses« soll systematisch Fake News und Hetze gegen die demokratischen Institutionen verbreiten - angeführt von Bolsonaros Sohn Carlos. Nach der Razzia veröffentlichte Winter ein Video, in dem sie den Richter des Obersten Gerichtshofes, der die Razzia angeordnet hatte, offen bedrohte: »Du wirst keinen Frieden mehr finden. Wir werden dein Leben zur Hölle machen.«
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