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Nicht überraschend: Nazis lügen vor Gericht
Sonja Brasch von NSU Watch Hessen über notwendige Fragen und blinde Flecken im Lübcke-Prozess
Nach dem Ende des NSU-Prozesses hatten Neonazis applaudiert. Angehörige der Opfer zeigten sich enttäuscht. Wie kann verhindert werden, dass sich dies nun beim Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wiederholt?
Das fängt bereits damit an, dass wir alle Betroffenen, die im Prozess eine Rolle spielen, sichtbar machen. Es geht ja nicht nur um die Ermordung von Walter Lübcke, sondern auch um die versuchte Tötung von Ahmad E., der von Ernst im Januar 2016 niedergestochen worden sein soll.
Droht der rassistische Mordversuch unterzugehen?
Ahmad E. hatte die Ermittler sehr früh auf Rassismus als Tatmotiv aufmerksam gemacht. Die Polizei war auch bei Ernst und stellte fest, dass dieser und sein Fahrrad zur Beschreibung des Betroffenen passten. Warum die Polizei sein Alibi nicht genauer untersuchte und ihn nicht ernst nahm, muss geklärt werden. Beide Straftaten müssen jedenfalls zusammen gedacht werden. Beide Personen wurden ausgewählt, weil sie von den Rassisten als Stellvertreter der offenen Gesellschaft ausgemacht wurden. Der eine als Entscheidungsträger, der andere als geflüchteter Mensch.
Sonja Brasch ist Mitglied bei NSU Watch Hessen. Die Initiative ist Teil des bundesweiten antifaschistischen Netzwerks NSU Watch und hatte sich anlässlich des NSU-Untersuchungsausschusses 2014 im Landtag gegründet und den Ausschuss kritisch begleitet. Seither beschäftigt sich das Projekt vornehmlich mit rechtem Terror und Nazigewalt in Hessen. Auch das nun beginnende Verfahren gegen die beiden mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst und Markus Hartmann, wird NSU Watch Hessen dokumentieren und auswerten. Mit Brasch sprach Sebastian Bähr.
Wie kann das Gericht das berücksichtigen?
Wichtig ist, dass die Betroffenen merken, dass ihre Anliegen bei Gericht eine Rolle spielen, und dass, wie im Fall von Ahmad E., Rassismus als Tatmotiv in seiner ganzen Dimension erkannt wird. Hoffnung darauf, dass es bei diesem Prozess anders wird, gibt es aber wenig.
Beim NSU-Prozess hatte sich die Staatsanwaltschaft zeitig auf die These des Kerntrios festgelegt. Befürchten Sie, dass nun ähnlich versucht wird, Ernst und Hartmann als isolierte Einzeltäter darzustellen?
Was bisher von der Anklage bekannt ist, deutet genau darauf hin. Sicher hat die Bundesanwaltschaft ein Interesse daran, eine möglichst wasserdichte Anklage zu präsentieren, die auch zu einer Verurteilung führt. Aber die Frage eines möglichen Netzwerkes wird dabei ausgeblendet. Ernst und Hartmann sind dabei seit über zwanzig Jahren in der lokalen und überregionalen Naziszene aktiv und gut vernetzt. Sie waren in diversen Organisationen von der Freien Kameradschaft über die NPD bis hin zur AfD über die ganze Zeit hinweg präsent.
Wie wichtig sind diese Organisationen in diesem Zusammenhang?
Die Kassler Naziszene besteht im Kern vielleicht aus gut 50 Personen, sie ist eher als Milieu zu denken, in dem eine Mitgliedschaft in einer Organisation weniger zählt als die jahrelange Freundschaft. So ist zum Beispiel das Hooliganspektrum ein wichtiger Ort der Vernetzung, wie kürzlich eine Recherche der Kassler Antifagruppe TASK zeigte. Die enge Vernetzung findet sich dann auch in der rechtsterroristischen Gewalt: Eine Recherche von Exif hatte vor einigen Monaten die Verbindungen zwischen dem Mord an Halit Yozgat, nach aktuellem Wissen vom NSU begangen, und dem Mord an Walter Lübcke aufgezeigt. Es stellt sich aber ebenfalls die Frage, wie die Kassler Naziszene mit den Geheimdiensten verstrickt ist. Hier stehen wir mit unserer Bewertung noch am Anfang. Der Prozess stellt bei der Aufklärung eher ein Baustein dar.
Eine umfassende Aufklärung ist nicht zu erwarten?
Bisher scheint es unwahrscheinlich, dass der Inlandsgeheimdienst im Prozess eine Rolle spielen wird. Die Bundesanwaltschaft geht es vermutlich nur um den Nachweis der Täterschaft in dem sehr eng gesteckten Feld der angeklagten Straftaten. Im NSU-Urteil sucht man den Begriff »Verfassungsschutz« ja auch vergeblich. Eine andere wichtige Frage betrifft übrigens noch die Waffen.
Was meinen Sie?
Mehrere Schusswaffen, darunter eine Automatikpistole, Schalldämpfer und über Tausend Schuss Munition wurden in einem Erddepot von Ernst gefunden. Woher stammten diese Waffen und wer wusste noch davon? Dazu kommen die Listen und Dossiers mit Daten über potenzielle weitere Anschlagsziele.
Ernst hatte zu den Fundorten bereits bei Behörden ausgesagt, später teilweise die Aussage zurückgenommen. Wie sollte man generell die Aussagen der Angeklagten während des Prozesses bewerten?
Dass Nazis vor Gericht lügen, sollte nicht verwundern. Wichtiger ist, dass die Betroffenen gehört werden und die rassistische und menschenverachtende Ideologie als Tatmotiv den richtigen Stellenwert bekommt.
Um das zu gewährleisten, werden auch Antifaschisten den Prozess begleiten. Was sind die Vorteile?
Wir von NSU Watch Hessen werden den Prozess ebenso begleiten wie auch die Mobile Beratung aus Kassel. Wichtig ist uns, auch die Details festzuhalten, die für die Journalisten vielleicht nicht so interessant sind. Wir sind in unserer Beobachtung nicht von Konjunkturen abhängig und müssen nicht darauf achten, welche Geschichte sich verkauft. Wir sammeln alle Informationen und machen sie der Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem ist es uns wichtig, dem Betroffenen und den Hinterbliebenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind mit den Nazis auf der Anklagebank.
In Hessen startet bald ein Untersuchungsausschuss. Was kann dieser zur Aufklärung beitragen?
Der aufzuklärende Komplex ist immens. Noch immer ist unklar, wer das NSU-Kerntrio in Kassel lokal unterstützt hatte. Wir wissen, dass der ehemalige VS-Mitarbeiter Andreas Temme lügt. Wir wissen, dass sich der Verfassungsschutz ebenso gegen eine Offenlegung der Akten sträubt wie das Innenministerium. Im Fall von Ernst und Hartmann liegen darüber hinaus die bekannten Fragen auf dem Tisch: Gibt oder gab es Zusammenarbeit mit den Behörden, wenn ja welche und in welchem Zeitraum? Warum wurden die Erkenntnisse über Hartmann nicht an das Gericht weitergegeben, so dass er seine Waffen legal führen durfte? Welche der noch offenen Fälle von Nazigewalt und Terror hängen mit den Angeklagten zusammen? Was wissen die Behörden darüber und hätten Morde verhindert werden können?
Sie vertrauen demnach nicht auf den Aufklärungswillen von Landesinnenminister Peter Beuth?
Der Innenminister fährt erneut seine berühmte Salamitaktik und gibt nur das zu, was durch Recherche nicht mehr zu leugnen ist. Es bleibt die Frage, wie lange er und die anderen Verantwortlichen sich dieses Verhalten noch leisten können.
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