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»Wir haben um jedes Blatt kämpfen müssen«

Hermann Schaus von der hessischen Linksfraktion über Untersuchungsausschüsse zum NSU und dem Lübcke-Mord

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 3 Min.

Die hessische Linke hat mit SPD und FDP einen Untersuchungsausschuss zur Rolle der Landesbehörden im Mordfall Walter Lübcke beziehungsweise dem Mordversuch an dem Geflüchteten Ahmad E. beantragt. Bereits in der kommenden Woche soll er eingesetzt werden. Was sind die Ziele?
Uns geht es darum, Aufklärung zu leisten und die Hintergründe der Verbrechen zu durchleuchten. Konkret wollen wir die Versäumnisse und das Versagen der Behörden bei den Ermittlungen gegen Stephan Ernst und Markus H. aufarbeiten, beim Verfassungsschutz, der Polizei- und den Justizbehörden.

Was sind zu klärende Fragen?
Wir wollen vor allem aufklären, wieso Ernst vom hessischen Verfassungsschutz 2015 als »abgekühlt« dargestellt wurde, obwohl wir im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtages im gleichen Jahr sehr wohl auf ihn als gefährlichen und militanten Neonazi in den geheimen Akten des Verfassungsschutzes aufmerksam geworden sind. Wir versuchen dabei auch an das Wissen um einen NSU-Unterstützerkreis in Nordhessen anzuknüpfen, der uns im Untersuchungsausschuss von 2014 bis 2018 bereits beschäftigte.

Hermann Schaus

Hermann Schaus ist Abgeordneter der hessischen Linksfraktion und dort unter anderem auch für Innenpolitik und Antifaschimus zuständig. Als Obmann der Fraktion nahm er am NSU-Untersuchungsausschuss des Landtages von 2015 bis 2018 teil. Hier hatte er bereits 2015 Bezüge zu den mutmaßlichen Lübcke-Mördern Stephan E. und Markus H. entdeckt. Mit Schaus sprach Sebastian Bähr. Foto: Linksfraktion Hessen

Inwiefern gibt es Bezüge zwischen dem Lübcke/Ahmad E.-Komplex, die es nun weiter zu erforschen gilt?
Wir haben es bei dem Kreis der nordhessischen Neonazis, dem auch Stephan Ernst und Markus H. über viele Jahre angehörten, mit den gleichen Personen zu tun, auf die wir bereits bei der Untersuchung des NSU-Mordes an Halit Yozgat gestoßen sind. Diese Neonazis hatten damals sehr gute Kontakte zum Thüringer Heimatschutz, zu dem auch die NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gehörten.

Was sind weitere wichtige Fragen? Was hat es etwa mit der Rolle der Waffen auf sich?
Wir bedauern es sehr, dass im Gerichtsverfahren der illegale Handel mit den Waffen nicht mit angeklagt wurde. Es ist für uns aber wichtig, dass dazu auch ermittelt wird. Zudem hat Markus H., obwohl er ein bekannter Neonazi war, 2015 vor Gericht die Ausstellung einer Waffenbesitzkarte erstritten, weil der Verfassungsschutz ihm vorliegende Informationen nicht weitergegeben hat. Diese Tatsache werden wir genauestens durchleuchten müssen.

Immer wieder stoßen Parlamentarier mit ihren Aufklärungsbemühungen bei dem Thema Naziterrorismus auf eine Blockadehaltung. Wie war die Kooperationsbereitschaft von Politik und Behörden in Hessen?
Wir haben im NSU-Untersuchungsausschuss um jedes Blatt Papier kämpfen müssen, weil Verfassungsschutz und Landesregierung gemauert haben. Die Ausschussmehrheit aus CDU und Grünen hatte damals ihre Hauptaufgabe darin gesehen, den angeschlagenen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) zu schützen. Wir hoffen sehr, dass sich dies im jetzigen Untersuchungsausschuss nicht wiederholt.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem hessischen Verfassungsschutz gewesen?
Schon im NSU-Untersuchungsschuss haben wir schwerwiegende Verfehlungen und auch teilweise Vertuschungen festgestellt. Die Polizei hatte damals beispielsweise von einer »Unterstützungshaltung« des Verfassungsschutzes für den seinerzeit selbst unter Mordverdacht stehenden dubiosen V-Mann-Führer Andreas Temme gesprochen. Dazu behauptete eben der Verfassungsschutz, dass Ernst und H. ab 2010 angeblich nicht weiter beobachtet wurden. 2015 wurde sogar die Personenakte von Stephan Ernst und in 2016 auch die von Markus H. intern gelöscht.

Was zeigt dies auf?
Das zeigt erheblich strukturelle Probleme innerhalb des Verfassungsschutzes auf, die nicht einfach mit einem Wechsel des Präsidenten an der Spitze gelöst werden können. Eigentlich müsste diese Behörde aufgelöst werden, aber das ist derzeit nicht mehrheitsfähig. Wir brauchen deshalb aber eine grundlegende Neustrukturierung dieser Behörde. Sie muss auf V-Leute - in diesem Fall auf bezahlte Neonazis - verzichten und unter eine wirksame demokratische Kontrolle gestellt werden. Der Verfassungsschutz soll auch der Öffentlichkeit gegenüber regelmäßig Rechenschaft leisten - über das, was er macht und auch das, was er nicht macht. Solange dies aber nicht passiert, werden wir weiter die Defizite dieses Geheimdienstes aufzeigen - so auch im jetzt beginnenden Untersuchungsausschuss.

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