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Ein lückenhaftes Geständnis
Beim Prozessauftakt zum Mord an Walter Lübcke wird ein Vernehmungsvideo des mutmaßlichen Täters gezeigt. Darin schweigt er zum Messerangriff auf Ahmad E.
Vier Unterbrechungen allein in den ersten 50 Minuten. Der zweite Verhandlungstag vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main zum Mord an Walter Lübcke und zum versuchten Mord an Ahmad E. beginnt am Donnerstag mit Verzögerungen. Es geht um den dritten und vierten Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter. Dann um den Standort des Fernsehers, auf dem die Richterbank das mittlerweile widerrufene Geständnis von Stephan Ernst vom Juni 2019 anschauen möchte. Taktiken, um die Beweisaufnahme zu verzögern. Im Saal fallen Worte wie »lächerlich«, »Kindergarten« und »Gemetzel«.
In dieser Woche startete der Prozess um den wahrscheinlich ersten rechten Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Vor Gericht stehen die in der extrem rechten Szene bekannten und teils vorbestraften Neonazis Stephan Ernst, dem der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten, sowie Markus H., dem Beihilfe vorgeworfen wird. H. wird von zwei in der Szene bekannten Anwälten vertreten.
Messerangriff am 6. Januar
Endlich wird das rund vier Stunden dauernde Video gestartet. Immer wieder spricht Ernst von »Schlüsselerlebnissen«: die Silvesternacht in Köln 2015 auf 2016, das islamistische Attentat in Nizza im Juli 2016, eine Enthauptung von Rucksacktouristen Ende 2018 in Marokko. Nichts davon hat er selbst erlebt, und dennoch behauptet er, diese Ereignisse hätten ihn »persönlich betroffen«. Zur besagten Silvesternacht in Köln gibt er zu Protokoll: »Ich war aufgelöst, wie vor den Kopf gestoßen.« Er sei von seinem Wohnhaus auf die Straße gelaufen, habe einem Mann, »ich glaube, er war Ausländer«, hinterhergerufen: »Euch müssen wir den Hals abschneiden« und alle Wahlplakate von Grünen und SPD niedergetreten. Wann das war? »Ich meine, das war der 6. Januar«, antwortet Ernst.
Mehr erzählt er über dieses Datum nicht. Dabei war der 6. Januar 2016 auch der Tag, an dem er der Anklage zufolge einen versuchten Mord begangen hat. Ernst soll mit dem Fahrrad von hinten an einen irakischen Geflüchteten herangefahren sein und ihm ein Messer in den Rücken gerammt haben. Ahmad E., der in diesem Verfahren als Nebenkläger auftritt, musste ins Krankenhaus und intensivmedizinisch behandelt werden. Zwei Nervenstränge waren durchtrennt. Lebensgefahr bestand nicht, E. trug allerdings bleibende Schäden davon. »Es kam Ernst darauf an, mit der Tat seinen Hass auf Geflüchtete auszuleben«, erklärte der Staatsanwalt in der Verlesung der Anklage am Dienstag. Sein Ziel sei es gewesen, Angst unter Geflüchteten zu verbreiten, damit diese die Bundesrepublik wieder verlassen.
2016 hatte die Polizei ein rassistisches Tatmotiv nicht anerkennen wollen. Obwohl das Opfer ein Geflüchteter war und obwohl auch ein Zeuge gehört hatte, wie der Täter eine Parole rief, in der »Deutschland« vorkam. Ernst war nach der Tat sogar aufgesucht worden. Als Tatverdächtiger wurde er aber nicht weiter verfolgt. Warum?
Im kompletten Geständnis vom Juni 2019 kommt der Angriff auf Ahmad E. nicht vor. Ernst erzählt dagegen, wie er sich 2011 angeblich von den Freien Kameradschaften in Kassel habe lösen wollen. Lange hält das aber nicht an. Als 2013 ein alter Kamerad, mit dem er regelmäßig zu rechten Aufmärschen gefahren war - der Mitangeklagte Markus H. - sein Arbeitskollege wird, schließt er sich dessen Hobby an: ausgerechnet dem Schießen.
Im Video spricht Ernst auch von seinen Kindern, denen er eingetrichtert habe, sie sollten auf ihre Lehrer hören. Er selbst habe ihnen nicht immer ein gutes Vorbild sein können. Er schluchzt im Video mehrmals, weint. Im Gerichtssaal läuft bei dieser Szene sein Kopf rot an, mit einem Taschentuch tupft er sich mehrmals die Augen ab. Vielleicht ist er überfordert, hofft auf Mitleid oder sogar Verständnis. Verständnis für einen mutmaßlichen Mörder? Und das, während die Familie des Toten ihm gegenüber sitzt und sich das Video mit dem Geständnis anschauen muss? Die Hinterbliebenen, die im Prozess Nebenkläger sind, verziehen keine Miene. Die Witwe des Ermordeten hat bis zu diesem Moment fast ununterbrochen die Aufzeichnung angesehen, nun blickt sie stumm vor sich auf den Tisch. Einer ihrer Söhne schaut weiter auf die Leinwand, der andere hat seine Augen fast während der kompletten Wiedergabe des Videos stoisch auf Stephan Ernst gerichtet, der ihm schräg gegenüber sitzt.
Der erklärt im Video, wie er sich immer mehr in seinen Flüchtlingshass hineinsteigerte, sich vor einer angeblichen »Überfremdung« fürchtete, vor einer »Überflutung mit Ausländern«, sich Waffen besorgte, zum Schutz, aber auch, »um vorbereitet zu sein auf diesen eventuell kommenden Bürgerkrieg«.
Die Zuschauerränge sind ausgedünnt. Nicht aus mangelndem Interesse, sondern weil wegen der Corona-Bestimmungen nur ein Drittel der Stühle besetzt werden darf. Neben 18 freien Plätzen können 19 Journalisten dem Verfahren im Gerichtssaal folgen. Alle diese Plätze sind besetzt. Auch Caro Keller verfolgt die ersten Verhandlungstage. Sie arbeitet für NSU-Watch, eine Initiative, deren Ziel es ist, den NSU-Komplex aufzudecken. Zu diesem gibt es im Fall Lübcke mehrere Verbindungen, wie vor allem antifaschistische Recherchen belegen (siehe Interview mit Sonja Brasch von NSU-Watch vom 16. Juni).
»Tag X« kann jeder Tag sein
Der Weg der seiner Radikalisierung, den Ernst im Geständnis beschreibt, erscheint Keller als plausibel. Seine Schilderungen zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Bürgerkrieg entspreche »zum Teil wortgleich« denen vieler Rechter der vergangenen Jahre. Statt auf einen tatsächlich eintretenden Bürgerkrieg zu warten, entschieden Einzelne individuell, wann der »Tag X« gekommen sei. »Das macht alle, die von einem Bürgerkrieg reden, so gefährlich.« Überall im Land hätten extrem Rechte - ob Gruppen oder Einzelpersonen - Waffenlager angelegt. Mit Ahmad E. habe sich Ernst »den konkreten Körper«, mit Lübcke den Verantwortlichen ausgewählt.
In seiner Erzählung bleibt nicht nur der Angriff auf Ahmad E. unerwähnt. Ernst nennt zwar mehrfach Markus H., mit dem er auch die Bürgerversammlung in Lohfelden im Oktober 2015 besuchte, auf der Ernst den Regierungspräsidenten Lübcke zum ersten Mal erlebte und ihn daraufhin zu seiner Zielscheibe machte. Doch danach kommt H. in seinem Geständnis kaum noch vor. Seine Fixierung auf Lübcke habe er mit ihm kaum besprochen, behauptet Ernst. Die Tat habe er allein begangen. Und doch löschten beide nach der Tat zahlreiche Chat-Nachrichten, die sie ausgetauscht hatten. NSU-Watch weist darauf hin, dass er einen gemeinsamen Besuch einer AfD-Demonstration während rassistischer Ausschreitungen im Sommer 2018 in Chemnitz verschweigt. Auch seine Spende an die AfD bleibt unerwähnt.
»Der Mord an Walter Lübcke geschah nicht im luftleeren Raum. Er wurde befeuert von jahrelanger rechter, völkischer, rassistischer Mobilisierung, die unter anderem von der AfD vorangetrieben wurde«, kommentiert NSU-Watch den zweiten Verhandlungstag.
Das ist auch Ausgangspunkt der Kundgebung am Dienstagnachmittag unweit des Gerichts, an der sich NSU-Watch beteiligt. Trotz Nieselregen haben sich rund 200 Demonstranten versammelt. »Keine Einzeltäter« steht auf einem großen Transparent in ihrer Mitte. Linke und Vertreter*innen antifaschistischer Gruppen sowie migrantischer Initiativen erheben das Wort und fordern Gerechtigkeit ein. Gerechtigkeit im Fall Walter Lübcke und Ahmad E., aber auch darüber hinaus.
Thana trägt ein Schild mit der Aufschrift »NSU-Akten sofort veröffentlichen« in den Händen. Sie ist Mitglied der hessischen »Migrantifa«. Ihren Nachnamen will sie, wie auch weitere Aktivist*innen, nicht in der Zeitung lesen. Sie fordern eine Aufklärung der vielen ungeklärten rassistischen Verbrechen, eine Entwaffnung von Neonazi-Netzwerken - und die Auflösung des Verfassungsschutzes. »Wir haben nach dem Anschlag von Hanau gemerkt, wie vielen Gefahren wir als migrantische und von Rassismus betroffene Menschen tagtäglich ausgesetzt sind«, sagt Thana. Sie ruft zur weiteren migrantischen Selbstorganisation auf - und zur Veränderung der Institutionen an ihren »Wurzeln«.
Die Initiative »19. Februar« will an den Terroranschlag am besagten Datum dieses Jahres in der hessischen Nachbarstadt von Frankfurt am Main bewusst erinnern, fordert gleichzeitig aber auch gesellschaftliche und politische Konsequenzen ein. »Wir brauchen eine Entnazifizierung aller Strukturen«, sagt Harpreet an der Konstablerwache.
Einig sind sich die Aktivistinnen darin, dass sie das Verfahren und den behördlichen Umgang mit Stephan Ernst und Markus H. genau beobachten wollen. Klar ist: In dem Prozess wird nicht nur die mögliche Täterschaft zweier Angeklagter verhandelt, sondern auch das Vertrauen vieler junger Migranten in staatliche Institutionen. Menschen dieses Landes, die mit rassistischem Terror aufwuchsen, unter ihm litten, durch ihn politisiert wurden. Die den Staat dabei oftmals nicht als Verbündeten wahrnahmen, sondern als ignorant - oder Mittäter.
Die Kundgebung verwandelt sich in eine Spontandemonstration. Kurzerhand zieht die Gruppe noch vor das Oberlandesgericht ein paar hundert Meter entfernt. Vor dem Eingang werfen Aktivisten zahlreiche Aktenordner ab. Diese stehen symbolisch für die auf 30 Jahre verschlossenen NSU-Akten in Hessen. Akten, in denen Verweise auf die Männer stehen, die womöglich für den Mord an Walter Lübcke und den versuchten Mord an Ahmad E. verantwortlich sind.
Weitere Prozesstermine sind zunächst bis Oktober angesetzt, vermutlich wird der Prozess länger dauern. Weiterverhandelt wird am 30. Juni. Dann könnte das zweite Geständnis von Ernst gezeigt werden, in dem er Markus H. der Tat beschuldigt.
Lesen Sie auch: Interview mit Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen
Alle Texte zum Lübcke-Prozess: dasnd.de/luebcke
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