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Was bleibt, wenn sich alles ändert

Ein Projekt der Stiftung Reinbeckhallen sammelt und erforscht private Fotografie aus Ostdeutschland von 1980 bis 2000

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Lachende Kinder am Ostseestrand, unsichere Gesichter bei der Einschulung oder festliche Stimmung unterm Weihnachtsbaum - all diese Momente halten Familien gerne auf Fotos fest und kleben sie ins Album. »Private Fotografie findet dann statt, wenn das Leben gerade schön ist«, sagt der Fotohistoriker und Kurator Friedrich Tietjen. Gemeinsam mit der Kulturhistorikerin und Kuratorin Sophie Schulz hat er das Forschungsprojekt »Biografie und Geschichte. Private Fotografie in Ostdeutschland 1980-2000« initiiert.

Die beiden laden Menschen aus Ostdeutschland ein, ihnen Einblicke in private Fotoarchive zu ermöglichen. Die Gespräche finden im kleinen, nicht öffentlichen Kreis statt - je nachdem, wie es im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen möglich ist. Im Mittelpunkt der Forschung steht »das ganz normale Leben«. Von Mimis erstem Wackelzahn, Papas neuem Pullunder, Onkel Willis Kaffeekränzchen bis hin zu Tante Ernas Lieblingsstrandkorb auf Rügen ist alles interessant, was den Alltag in der Vorwende- und Nachwendezeit im Osten Deutschlands dokumentiert. Es geht um Fotos, für die sich normalerweise niemand besonders interessiert, der nicht dabei gewesen ist.

Solche »Albengespräche«, in denen die Fotos mit Projektmitarbeiter*innen besprochen werden, sind unter anderem in Berlin, Dresden, Eisenhüttenstadt, Erfurt, Greifswald, Potsdam, Kleinmachnow, Kloster Veßra, Leipzig, Magdeburg und Rostock geplant. Bei den Gesprächen interessiere nicht nur das, was auf den Fotos zu sehen ist, erklärt Friedrich Tietjen. Es gehe auch um die damit verbundenen Praktiken. »Wir wollen uns die Alben erzählen lassen: Wer hat wann fotografiert? Wer hat die Bilder eingeklebt und kommentiert? Wo wurden sie verwahrt und wann wurden sie gezeigt?«

In den nach der Oral-History-Methode geführten Interviews steht die subjektive Erfahrung der Erzählenden im Mittelpunkt - Perspektiven, die in der Aufzeichnung von reiner Ereignisgeschichte meist fehlen. Dabei geht nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Perspektive der Gegenwart: Wie blicken die Menschen heute auf die Fotos aus dieser Zeit zurück? Welche Geschichten fallen ihnen dazu ein? Wie kommentieren sie das Gesehene?

Zwischen den Jahren 1980 und 2000 liegt eine Zeit politischer, wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche. Inwiefern aber spiegeln sich diese Veränderungen in den Alben? Etwa 80 Prozent privater Fotografie drehe sich um die Themen Kinder, Reise und Weihnachten, sagt Friedrich Tietjen. Er vermutet, dass das auch rund um die Wendezeit in Ostdeutschland so war. Sicherlich zeigen sich Veränderungen: Die Fotos werden bunt, die Frisuren folgen anderen Moden, die Urlaubsbilder kommen aus London statt von der Ostsee. Spannend sei jedoch nicht nur das Neue, sondern auch das, was bleibt, unterstreicht Friedrich Tietjen. »Was uns interessiert, ist, was sich alles nicht verändert, wenn sich alles verändert.«

Auch in Zeiten des Umbruchs zeigen sich Konstanten, die sich in der privaten Fotografie manifestieren, sagt Tietjen. Das unterstreichen seine Erfahrungen aus einem ähnlichen Projekt, das jedoch eine andere Epoche zum Thema hatte. Unter dem Motto »Alle antreten! Es wird geknipst!« hat das Volkskundemuseum in Wien 2018/2019 private Fotografie in Österreich aus den Jahren 1930 bis 1950 gesammelt, analysiert und ausgestellt.

Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, die mit Leid und Terror verbundene Herrschaft der Nationalsozialisten: Diese Geschehnisse finden in den privaten Fotografien nur wenig Widerhall, berichtet der Fotohistoriker. »Wir stellten zu unserer leisen Verwunderung fest: Wenn man auf die breite Masse der ›ganz normalen‹ Alben schaut, sieht man nichts von den traumatischen Ereignissen.« Während der Zweite Weltkrieg tobt, werden weiter Ausflüge in adretter Kleidung gemacht, es wird weiter gefeiert, die häusliche Idylle wird aufrechterhalten. »Wenn wir als Quelle nur die private Fotografie hätten, bekämen wir den Eindruck, dass damals Frieden herrschte«, sagt Tietjen.

Ob sich Ähnliches bei der Fotografie in Ostdeutschland zwischen 1980 und 2000 beobachten lässt? Der Fotohistoriker vermutet, dass sich auch in dieser Zeit die Motive privater Fotografie nicht grundsätzlich verändern. Allerdings gebe es Unterschiede zwischen den Epochen, sagt er. In Österreich habe der Anschluss an Deutschland einen kleinen Teil der Bevölkerung existenziell getroffen und traumatische Spuren hinterlassen, während ein Großteil zumindest im Privaten wie zuvor weiterlebte. Er vermute, dass im Gegensatz dazu der Untergang der DDR bei vielen Menschen auch im privaten Bereich zu dramatischen Einschnitten führte - sei es durch Umzüge, Trennungen oder einfach die veränderte Organisation des Alltags. Welche Spuren die Veränderungen in der privaten Fotografie hinterließen, wird sich im Laufe des Forschungsprojektes zeigen. Ebenso wird sich offenbaren, was in der Erzählung fehlt.

Politische Regime werden gestürzt, Wirtschaftssysteme umgekrempelt, Menschen werden verfolgt und Kriege geführt: Private Fotografie zeige auch, was mit Gesellschaften alles angestellt werden kann, solange die Kinder noch im Garten spielen und zur Schule gehen dürfen, so Tietjen. Private Fotografie zeige kein unverzerrtes Spiegelbild der Geschichte. Sie zeige nicht nur, was ist, sondern auch, wie es Menschen gerne hätten. »Man kann erkennen, welche Wünsche und Vorstellungen darüber herrschten, wie das Leben aussehen soll«, erklärt er.

Im vergangenen Herbst wurden in Leipzig die ersten Probegespräche geführt, nun soll das Projekt auch in anderen Städten starten. Die Albengespräche werden per Video aufgezeichnet und die Fotos digitalisiert. Die dabei entstehende Dokumentation wird in der Sammlung des Deutschen Historischen Museums in Berlin archiviert. Das DHM ist Partner des Projektes, das von der Stiftung Reinbeckhallen - Sammlung für Gegenwartskunst getragen wird. Gefördert wird es mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die Fotos verbleiben nach den Gesprächen in der Hand der Eigentümer*innen, erklärt Tietjen. »Wir glauben, dass in den Familien der beste Ort für die Alben ist.« Durch die Digitalisierung aber können sie trotzdem der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Was neben der wissenschaftlichen Auswertung mit den Projektergebnissen passiert, sei noch unklar. »Ich würde wahnsinnig gerne eine Ausstellung machen«, sagt der Kurator. Das aber hänge davon ab, ob Fördermittel akquiriert werden können. Wer Alben aus der Zeit von 1980 bis 2000 hat, kann sich unter der Telefonnummer 0151/10409096 melden oder eine E-Mail an privatefotografie@stiftung-reinbeckhallen.de schreiben.

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