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  • Politik
  • Politisches Bewusstsein in der DDR

Wo sie das alles gelernt hatten

Was war und zu welchem Ende kam die politische Energie der Ostdeutschen?

  • Klaus Wolfram
  • Lesedauer: 8 Min.

0. Drei Jahrzehnte danach sollte man meinen, die tragenden Linien, die zu 1989 führten und seine Form bestimmten, würden sichtbar. Stattdessen spinnt die Bundesrepublik ihr Selbstgespräch über Ostdeutschland fort und fort - doch hört inzwischen dort niemand mehr zu.

1. Wie kamen wir heran? Am Anfang stehen ein präzises Datum, der 10. September 1989, und sogar eine einzelne Person. Ein Jahr lang hatte Bärbel Bohley das Treffen von 30 Oppositionellen vorbereitet, das die Bürgerbewegung »Neues Forum« gründete. (Es war übrigens der Grundgedanke, sie jenseits der Kirche und außerhalb der Opposition zu verankern.) Natürlich hat ein weltgeschichtlicher Ruck wie der von 1989 Tausende Vorbedingungen. Die Form des Handelns aber wurde hier gesetzt. Dialog. Generalaussprache aller politischen Strömungen. Basisdemokratie der eigenen Bewegung. Gewaltlosigkeit von beiden Seiten. Das war der Tanzpunkt der ostdeutschen Demokratie und ihr Grundgestus bis Ende 1993.

Zur Person
Klaus Wolfram, Sohn des ostdeutschen Theaterintendanten Gerhard Wolfram, studierte von 1970 bis 1974 Philosophie. Seit 1975 war er linker Oppositioneller in der DDR. 1977 aus der SED ausgeschlossen, war er bis 1981 Fabrikarbeiter. 1989 gründete er den Verlag Basisdruck und wurde Mitglied der Verfassungsgruppe des Runden Tisches. 1990–1992 Herausgeber der Wochenzeitung »Die Andere«, 1994–1999 Redakteur der Zeitschrift »Sklaven«. 

2. Wo entstand der Durchbruch? Man kann die politische DDR in vier Viertel teilen - von links nach rechts: Das erste Viertel unterstützte den sozialistischen Versuch aktiv, das zweite passiv. Das dritte lehnte ihn passiv ab, das vierte aktiv, mehr oder minder. Die Demokratiebewegung begann im zweiten Viertel, hier war die Opposition der 1980er zu Hause. Ihr Aufbruch sprang schnell nach links wie rechts über, in das erste und dritte Viertel, weil jener Grundgestus auch hier die angestauten demokratischen Bedürfnisse traf.

3. Da war es, das Wunderjahr. Die Menschen trugen den Kopf höher, sahen einander an, waren ansprechbar, und das überall. Offenheit begann als eigene Handlung. Was als Neues Forum gegründet worden war, ergriff binnen acht Wochen 200 000 Teilnehmer und diente im ganzen Land als Anfangsposition der realen politischen Differenzierung. Und das war nur die politische Bewegung. Flächendeckend wie nirgends sonst in Osteuropa verbreitete sich Selbstständigkeit, in allen Lebensbereichen, durch alle Sozialstrukturen. Anfangs die Demonstrationen, bald schon Absetzung von Bürgermeistern, Neuwahl von Werkleitungen. Spontane Bürgerkomitees öffneten Kasernentore. Und fünf Erfurter Frauen schlossen und versiegelten am 4. Dezember die erste Bezirksverwaltung des MfS. Ab 7. Dezember tagte der Zentrale Runde Tisch in Berlin als oberste Übergangsinstanz, Hunderte kommunale oder fachspezifische Tische trafen reale Entscheidungen, bis weit nach 1990 hinein. Es gab keine Führung, hier handelten Bürger in Selbstbestimmung.

4. »Wo hatten sie das gelernt?«, fragte der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler schon vor zwanzig Jahren. Offensichtlich in der DDR. Aber wie? Durch die Erfahrung sozialer Gleichstellung der überwiegenden Mehrheit dort. Das ist wohl schwer zu sehen für westliche Augen. Seit den 1970ern geschieht ein Umschwung im inneren Gleichgewicht der DDR. Auf die in Stein gemeißelten Verstaatlichungen antwortet ein neues Sozialverhalten. Die Gleichstellung der Menschen bei Stillstellung der Eigentumsverhältnisse hatte Folgen. In den Betrieben lösten sich mindestens die untersten drei oder vier Stufen der alten Hierarchie auf. Arbeiter und Angestellte waren auf gleich gestellt, noch der Meister hing von seiner Brigade ab. Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte - Teilarbeiter unter anderen Arbeitern. Orientierung aneinander statt an Hierarchie und Aufstiegschance. Eine soziale Eigendynamik, die zur Umkehr der Hierarchien tendiert und die politisch gesetzten Rahmen arbeitsalltäglich erweitert, tatsächlich verändert und für individuelle Lebensräume nutzt. Das Gegenteil von westlicher Sozialisation über Marktchancen. Zuletzt hockte nur noch die Regierung in einer »Nische«, keineswegs die Mehrheit. Die so oft bemühte »friedliche Revolution« war in Wahrheit die kräftige Erbschaft, welche die DDR ihren Bürgern mitgab.

5. Der Mauerfall ändert allerdings ruckartig die Zusammensetzung und Perspektiven der Demokratiebewegung. Nun erst tritt das vierte, das konservative Viertel des politischen Spektrums aus dem Wartestand. Mit ihm und seiner Ausstrahlung auf das dritte Viertel (ablehnend, aber passiv) verschiebt sich ab Ende Dezember das Nahziel von Umbau zu Wiedervereinigung. Jetzt sind aber alle vier Viertel in Bewegung geraten und stehen einander gegenüber. Am 18. März 1990 beträgt die Wahlbeteiligung 93,4 Prozent.

6. Von jener Wahl kennt man das politische Resultat: 47 Prozent für die bürgerrechtlich dünn verzierte, von Helmut Kohl aufgepumpte Ost-CDU, schnellstmöglicher Nationalstaat. Doch zeigt die Wahl auch anderes. 16 Prozent für die PDS, 22 für die SPD (Ost), 5 für die beiden Bürgerbewegungslisten sind Niederschlag jener ersten drei Viertel, zusammen 43 Prozent. Sogar in diesem Moment der tiefsten Erniedrigung der Reformperspektive zeigen sich die zwei Hälften der DDR-Bevölkerung, die linke und die konservative. Noch 30 Jahre später ist in Thüringen gerade wieder dieser Block zu sehen: 44 Prozent für Rot-Rot-Grün.

7. Inzwischen koppelt sich die Basis zusehends ab vom Oberbau der Einheit, schlägt aus nach links wie rechts. Warum? Es begann nicht von ihrer Seite. Sondern mit der Zerstörung der eigenen medialen Öffentlichkeit und wurde zementiert durch die radikale Privatisierung durch die Treuhand. Keine zwei Jahre nach 1990 gibt es im Osten keine TV-Station, Rundfunkanstalt oder größere Zeitung ohne westdeutsche Chefredaktion. Die Generalaussprache, das politische Bewusstsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine Bevölkerung eben erobert hatte, schlug um in belehrende Entmündigung. Das war eine scharfe Kehre, die durchaus verstanden wurde und umgehend als Lähmung wirkte. Politische Debatte war wieder auf die Ebene des Privatgesprächs herabgedrückt - gerade der Zustand, dem man entkommen war. So kam die Zeit der Rückfälle: Der Ängstliche wurde wieder ängstlich, der Mutige wieder einsam, der Zweifler wieder schüchtern, der Sozialist wieder steif und stur, der ehemalige Oppositionelle entweder Moralist oder Karrierist, der Spießer wieder spießig usw. usf.

8. Jeder einzelne Rückfall schwächte die ostdeutsche Demokratie. Bis 1993, als durch den neunmonatigen Arbeitskampf von Bischofferode eine letzte verzweifelte Hoffnung aufkeimte, hielt die Demokratiebewegung am Gestus von 1989 fest - dann war sie zerstreut und besiegt. Seither quält sich auf ostdeutschem Gebiet ein Volk, das schon einmal eine Gesellschaft geworden war - das wäre die soziologische Ausdrucksweise. Zeitgemäßer: Hier quält sich eine Gesellschaft, die 1989/90 schon einmal demokratisch geworden war - das wäre die politologische Beschreibung.

9. Kein Ostdeutscher verachtete je die Demokratie. Nicht vor 1989, erst recht nicht danach. Er erkennt sie nur genauer, nimmt sie persönlicher. Sie bedeutet ihm handhabbare Lebensumstände. Die wollte er um einen vernünftigen Überbau erweitern. Alle Beteiligten mussten dann schwer dazulernen; keinem jener vier Lager blieb Enttäuschung erspart. Wenn aber auch in dreißig Jahren kein reales Gespräch zwischen West und Ost entsteht, hat das strukturelle Gründe. Da die institutionellen Voraussetzungen für echten Dialog so gut wie sämtlich in altbundesdeutscher Hand sind, liegt die Fehlfunktion offenbar auf dieser Seite der Republik.

10. Die Schlagwörter kennen wir: totalitär, zweite deutsche Diktatur, Unrechtsstaat, Nischengesellschaft, Mitläufertum, Durchherrschung etc. etc. Damit wurden nun Land und Leute, Fabriken und Fähigkeiten, Menschen und Lebensläufe bewertet, die jene Ratgeber nie kennengelernt hatten und so nicht kennenlernen konnten. Dagegen steht das Ereignis selbst: Der Herbst 1989 zeigt, dass die Logik der vormaligen Produktionsverhältnisse eben nicht »totalitär« gewesen sein kann. Diese Begriffsmasken sind nur das fortgesetzte westliche »Selbstgespräch« über den Osten, als hätte es kein 1989 gegeben. - Nicht anders das Stasi-Thema: Es ist der Schlagschatten, mit dem die westdeutsche Vorstellung die konkrete Erinnerung der Ostdeutschen bedrängt, verdrängt und verdunkelt. Man könnte auch von Missbrauch des Themas sprechen. Woher das kommt? Aus der Prägung der West-Intelligenz in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Und woher das Übergewicht der falschen Vergleiche? Durch die vollständige Abwicklung der akademischen und medialen Intelligenz, die in der DDR entstanden war. Die scheinheilige und unsaubere Redeweise von den »zwei deutschen Diktaturen« zeigt es an. Argumentativ ist es nur selbstbezüglich, politisch wirkt es als Kolonialisierung.

11. Das sind nur zwei der Schläge auf die Köpfe der ostdeutschen Demokratie, auf mindestens die Hälfte der Ostdeutschen. - Welche Schläge es für die zwei anderen Viertel, die konservative Hälfte, waren, das wissen wir nicht so genau. Aber die AfD ist kein ostdeutsches Produkt, sondern eine ganz und gar westdeutsche Konsequenz. Sie verkörpert die Trennung des kleinen vom großen Bürgertum. Diese Spaltung wird auch bestehen bleiben, sie kann nicht durch argumentative oder kulturelle Überlegenheit beseitigt werden. Dieser Bruch bedeutet viel für die Bundesrepublik, er reicht tief und verändert sie zur Kenntlichkeit. Ihr Boden wird weiter nachgeben. - Ostdeutschland hat solches Bürgertum nicht. Hier fließen die Wahlerfolge der AfD aus anderen Quellen. Es sind vielleicht fünf Prozent der ostdeutschen Wähler, die wirklich Überzeugungen der Parteiführung teilen. Aber die Wunde der öffentlichen Sprachlosigkeit schwärt schon lang, das mag 15 Prozent der Ost-Stimmen ergeben. Die aktuellen 25 Prozent sind dagegen ein echtes Lernergebnis der Ostdeutschen aus den schlechten Umgangsformen der Denkzettel-Demokratie.

12. Der neuartige Widerstand von rechts hat zwei verschiedene Herkünfte. Die beiden deutschen Gesellschaften, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind, bestehen fort. Die staatliche Vereinheitlichung hat deren Gegensätzlichkeit bislang weder deutlich erkennen lassen noch konstruktiv auflösen können. Es ist nicht ausgemacht, von wo die nächsten Schritte der Demokratie ausgehen werden.

13. Was würde die demokratische Kompetenz von 1989 heute sagen und tun, hätte sie Stimme und Handlungsmacht? Sie würde stutzen über das Gerede von der »friedlichen Revolution«. Sie würde erinnern, dass es nicht »friedlich«, sondern ungeheuer gespannt war. Sie würde erkennen, dass zu der Gewaltlosigkeit von damals zwei Seiten gehören. Sie würde schließlich zu der anderen Seite sagen: Gut, wir sind noch immer anderer Meinung als Ihr - und Ihr seid es vermutlich umgekehrt auch. Aber Ihr habt nicht geschossen, habt uns unsern Weg gehen lassen und Euch selbst einer ungewissen Zukunft gebeugt. Deshalb soll jetzt jede Ausgrenzung enden: Generalamnestie, Ende der Regelanfrage u. ä. Das würde sie, denke ich, heute sagen. Nicht aus »Versöhnung«, sondern aus Selbstachtung - aus Selbstachtung der ostdeutschen Demokratie.

Der Text ist eine Kurzfassung des Vortrags »Was war und zu welchem Ende kam die politische Energie der Ostdeutschen?«, gehalten in der Berliner Akademie der Künste am 8. November 2019. Vollständig ist er in den Zeitschriften »Abwärts« (35) sowie »Journal der Künste« (12) erschienen.

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