- Politik
- Prekäre Beschäftigung
Schlechter Ruf, wenig Geld
Sebastian hat jahrelang im Callcenter gearbeitet.
Wer im Callcenter arbeitet, löst Probleme im Akkord, hört Leidensgeschichten und Beleidigungen. Es ist eine emotional fordernde Arbeit, findet Sebastian. Nach langer Krankheit, die auch aus der psychischen Belastung im Job resultierte, sucht er nun eine neue Arbeit und möchte deshalb seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Bis Mai war er sechs Jahre lang bei einem Callcenter angestellt, das seine Leistungen beispielsweise an Kommunikationskonzerne und Strombetreiber verkauft. In seiner Position hat er seit dessen Einführung 2015 den Mindestlohn verdient. In Vollzeit bekam er dabei rund 1100 Euro netto, in Teilzeit waren es zwischen 800 und 900 Euro. »Wäre ich alleine, müsste ich aufstocken.« Viele seiner ehemaligen Kolleg*innen kämen mit dem Geld nicht aus.
»Wir haben in Magdeburg gewohnt und sind nach Leipzig gezogen, weil meine Frau hier gut bezahlte Arbeit gefunden hat«, erklärt der Vater einer anderthalbjährigen Tochter. Dass er sich beim Callcenter bewarb, hätte vor allem daran gelegen, dass er schnell eine Arbeit finden wollte. Das Callcenter habe selbst dafür geworben, dass Vorkenntnisse für den Job nebensächlich seien. »Es gibt keine Vorurteile. Vom ungelernten 18-Jährigen bis zur 65-jährigen Langzeitarbeitslosen kommen alle rein.« Das wichtigste lerne man in Schulungen. Dazu kommt: Die Arbeit ist sicher, schon nach sechs Monaten gibt es einen unbefristeten Vertrag. Das lockt viele. »Dann bin ich da nicht mehr rausgekommen.« Durch die Schichtarbeit im Callcenter sei es schwierig, Termine für Bewerbungsgespräche wahrnehmen zu können. Obwohl Sebastian als gelernter Wirtschaftsinformatiker auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen haben müsste, seien Unternehmen oft skeptisch. Zu hartnäckig hält sich das Vorurteil der anspruchslosen Massenabfertigung am Telefon.
Lange hätte er Bekannten deshalb selbst nicht erzählen wollen, wo er arbeitet. Dabei war er meist zufrieden. Das Betriebsklima sei gut gewesen, die Arbeit konstruktiv: »Ich habe Rechnungen bearbeitet, bei Störungen geholfen. Es war vielseitig und komplex.« Die schlechte Bezahlung und das Stigma der Branche hängen für ihn zusammen.
Gutes Geld verdiene man im Callcenter nur, wenn man Kund*innen Zusatzleistungen verkaufe. Sebastian hat das nur ungern gemacht. Geärgert hat ihn auch die zunehmende »Zahlenschubserei«: »Ich vergleiche das mit der Arbeit meiner Frau, die bei der Bank arbeitet. Die bearbeitet einfach ihre Fälle und gut ist. Bei uns wurden sämtliche Zahlen getrackt, wie viele Anrufe du machst, wie schnell du arbeitest. Wenn du Probleme mit irgendwas hast, kriegst du potenziell jeden Monat auf den Deckel.«
Für die Arbeit, die sie leisten, seien die Angestellten im Callcenter »definitiv unterbezahlt«. Mindestens 1500, 1600 Euro netto müssten drin sein, um davon leben zu können, zumindest im Osten.
Auch wegen seiner Tochter sucht Sebastian jetzt nach einem neuen Job. »Gehaltvoller« soll er sein, in jeder Hinsicht.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.